Eine harte Nuss – die documenta fifteen
Vor dem Jahr 1955 hätten die Kasseler sich wohl nicht vorstellen können, einmal zu den wichtigsten Kunststädten Deutschlands zu gehören. Aber eine Ausstellung zu zeitgenössischer Kunst? Das fiel zunächst nicht auf allzu fruchtbaren Boden. Denn zeitgenössische Kunst ist häufig eine harte Nuss. Diese aber gilt es regelmäßig im Abstand von vier bis fünf Jahren in Kassel zu knacken. Die documenta von 1955 sah freilich noch anders aus. Von der Unterdrückung des Dritten Reiches hatte sich die Kunstszene noch nicht erholt, als „Das Museum der 100 Tage“ einige der aus den Museen entfernten und für „entartet“ erklärten Kunstwerke in den Fokus nahm und den Kunstbetrachtern in den nur notdürftig reparierten Räumen des Fridericianums präsentierte. Eine denkwürdige erste documenta war es 1955, die Geschichte geschrieben hat. 2022, 67 Jahre später, ist das Fridericianum bestens in Schuss und schon lange nicht mehr der einzige Ort, an dem die Kunst präsentiert wird. Mittlerweile hat sich die Kunst über die halbe Stadt ausgebreitet und zeigt sich nicht mehr nur im Zentrum (unter anderem in der 1992 eigens für die documenta errichtete documenta-Halle), sondern erstreckt sich über Plätze an der Fulda bis nach Bettenhausen und in die Nordstadt. Seit Beuys seine 7000 Eichen (tatsächlich nicht nur Eichen, sondern auch andere Laubbäume, wie Eschen und Linden) versehen je mit einer Basaltstele, im Kasseler Stadtraum verteilt hat (begonnen 1982, beendet 1987), ist eigentlich die ganze Stadt zum Kunstwerk geworden. Und das nicht nur 100 Tage alle paar Jahre, sondern immer, denn neben Beuys‘ Großprojekt haben sich auch einige andere Werke im öffentlichen Raum gehalten, die jederzeit erkundet werden wollen.
Auch die Thomas-Morus-Akademie ist nach Kassel aufgebrochen und hat am ersten Tag des Kunstprogramms einige dieser Werke im öffentlichen Raum besucht. Wir trafen auf mehrere Beuyssche Eichen, sind Jonathan Borofskys „Man Walking To The Sky“ mit den Augen in den Himmel gefolgt, haben über Gastfreundschaft, Heimatgefühl und Angst vor dem Fremden vor Olu Oguibes Beton-Obelisken, seinem „Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“, nachgedacht und bei Giuseppe Penones „Idee di Pietra“ Hand angelegt – tatsächlich! Kein echter Baumstamm steht hier im Stadtpark Karlsaue, es ist nur seine „Idee“, tatsächlich ein beeindruckend genauer Bronzeguß, der nicht nur technisch überzeugt, sondern im Sinne der Land Art und der Arte Povera zu intensiver Reflexion einlädt.
Schon viele documenta-Auflagen standen in harscher Kritik, aus verschiedenen Gründen. Bei dieser fünfzehnten Auflage waren es allerdings besonders schwere Vorwürfe. Zum ersten Mal wurde die künstlerische Leitung einem Künstlerkollektiv übertragen: Die indonesischen Gruppe ruangrupa erhielt den Zuschlag. Eine moderne Idee und bis hierhin auch noch unproblematisch. Doch dann entdeckte man antisemitische Motive auf einem großen Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf dem Friedrichsplatz. Es wurde eine große Diskussion entfesselt, die in der Verhüllung und schließlich der Entfernung des Werkes kulminierte. Wir haben People’s Justice, so der Titel des Werkes bei unserem Besuch also nicht mehr gesehen. Die Diskussion aber haben wir verfolgt und in kleinen und großen Gesprächsrunden konstruktiv reflektiert. So ist aber doch die ganze documenta fifteen überschattet von einem Skandal. Dessen ungeachtet erschien uns die Aufgabe des documenta-Besuchers darin, mit offenen Augen den nicht entfernten Werken zu begegnen, und so haben wir uns unter der ortskundigen Führung von Andreas Würbel auf den Weg quer durch die ganze Stadt gemacht, der Kunst auf die Spur zu kommen. Wir begegneten vielen spannenden Werken, die uns individuell und unterschiedlich kunsthistorisch, spirituell, ästhetisch, haptisch oder intellektuell angesprochen haben.
Nach all den Jahren hat sich die documenta längst zum place to be gemausert, und wir können das verstehen. Es war ein augenöffnender Aufenthalt und wir sind reicher nach Hause gefahren.
Bilder: Judith Graefe & Andreas Würbel
28. August 2022|| ein Beitrag von Judith Graefe, Akademiereferentin