Wir wollten doch nur einen Calatrava … Lohnt es sich, Utopien zu vollenden?

Hier erhebt sich eine unwirkliche, feenhafte Stadt aus Kuppelbauten, die wirkt, als hätte sich das Tadj Mahal sieben Mal mit Muscheln, Langusten oder anderem stacheligen Meeresgetier gepaart. Das ganze ausgebreitet auf einem Spiegel flacher Wasserbecken und umgeben von mediterranen, sonnendurchfluteten, oft palmenbestandenen Gärten. Im umgeleiteten und trockengelegten Flussbett des Rio Turia sollte ursprünglich eine sechsspurige Autobahn verlaufen, die 1988 in einem Referendum abgeschmettert wurde. Wer Valencia heute besucht, tut das heutzutage nicht mehr wegen der valencianischen Gotik oder der grandiosen Gründerzeitbauten, sondern wegen Santiago Calatrava und diesem gleißenden Feenland aus Wasser, hellem Zement und weiß bepinseltem Stahl.

Calatrava entstammte dieser Stadt und begann hier Ende der 60er Jahre sein Studium, zog dann allerdings aus der noch miefig provinziellen Franco-Diktatur in die Schweiz, um Architektur und Urbanistik zu studieren. Von dort aus begann er eine einzigartige Karriere. Sein Name wird mit spektakulärer Architektur weltweit in Verbindung gebracht und er gehört zu der Riege der Supermodels Claudia, Christy, Linda, Naomi – sorry, der Superarchitekten wie Foster, Rogers, Zaha Hadid, Coop Himmelblau, die man in aller Welt einkauft, damit alle Welt gleich aussieht. Er steht damit für eine internationale Markenarchitektur, die ikonenhaft auftrumpft und Architekturpaläste als Bezugspunkte setzt, während die normierte Wohnarchitektur und die Bauten, in denen wir arbeiten, immer uniformer und langweiliger werden. Man leistet sich derartige Signetbauten also als ästhetisches Feigenblatt für sonstige urbanistische Trostlosigkeiten.

Calatravas Architekturgedanken wurden, als er noch Schüler war, durch ein Buch über Le Corbusier geprägt – und wie jener neigt er zu fließenden, skulptural gestalteten Räumen. Zu Beginn der 1920er Jahre bildeten sich in Europa zwei einander widersprechende Positionen heraus. Im Umfeld des Bauhauses wurde funktional und geradlinig gedacht, während vor allem in der französischen Kultur Architekten und Bildhauer wie Le Corbusier, Jean Arp und der Maler Léger organisch und plastisch, auf eine Raumerfahrung hin gestalteten, oft unter Einfluss deutscher Architekten des Expressionismus, wie etwa Mendelsohn. Aus dieser zweiten Tradition schöpft Calatrava. Er steht damit nicht ganz allein da. Architekten der 50er Jahre wie Gottfried Böhm dachten so raumbezogen; in der Architektur der Postmoderne sind Frank O. Gehry und Zaha Hadid ebenfalls Vertreter einer so bewegten Baukunst.

Calatrava adaptiert aber auch andere Vorbilder aus der Kunstgeschichte. So spielt die Spätgotik Valencias, etwa die Llontja mit ihren durchlichteten weiten Hallen auf hauchdünnen Stützen eine wichtige Rolle, aber auch und vor allem Antoni Gaudì mit der Sagrada Familia und dem Parque Güell in Barcelona. Ein wesentlicher Aspekt seines Werks geht sicherlich auf eine Idee Bruno Tauts um 1920 zurück, die Stadtkrone, eine zentrale Architektur, die einer Metropole als Identitätsbeweis und gemeinschaftlicher Treffpunkt dienen kann.

Das Projekt in Valencia begann um 1990, als der Präsident der Generalitat Valencia auf einer Reise nach Paris die dortige Cité des Sciences et de l’Industrie, ein Wissenschafts- und Industriemuseum, kennen lernte. Man wollte im Mündungsbereich des Río Turia ein ähnliches Projekt erschaffen, in Las Moreras, einem Hafen- und Industrieviertel, das durch den Niedergang der Wirtschaft in den 1980ern vernachlässigt worden war. Das Projekt fügt sich in eine Reihe ähnlicher Unternehmungen wie die Docklands in London oder die Hamburger Hafencity, die zentrumsnahe Industriebrachen zu verwerten suchten.

Schon 1986 hatte Calatrava hier den Pont Nou d’Octubre errichtet, dazu kam später die Metrostation Alameda mit einer weiteren Brücke, der sogenannten „Peineta“ (dem Kamm). Die sozialistische Regierung plante also ein Wissenschaftszentrum mit IMAX–Kino und Planetarium sowie einem fast 400 m hohen Turm, der jedoch nur bis zu den Fundamenten gedieh. Dann wechselte die Lokalregierung nach einer Wahl und der nun herrschende Partido Popular fror das Projekt 1995 ein. Nach einigen Jahren entschied man sich jedoch dazu, das Projekt wieder aus der Versenkung zu holen, zumal es rechtsgültige Verträge mit dem Architekten und den Bauunternehmen gab. Es wurde auf den Turm verzichtet und stattdessen eine opulente Oper gestaltet. Hinzu kam ein großes Aquarium in parkartiger Gestaltung mit kleinen Pavillons von Félix Candela, schließlich ein mediterraner Garten auf einer Garage, sowie eine Art steinernes Festzelt, die Àgora.

Vom Stadtzentrum kommend erlebt der Besucher – wie solitäre Edelsteine an einer Kette – also folgende Bauten:

  1. Die Oper wurde bis 2005 für zwei Bühnen und zwei Konzertsäle ausgelegt und gilt mit einer Länge von 230 m als größtes lyrisches Theater der Welt. Das Gebäude umfasst bis zu 14 Stockwerke, die meisten unterirdisch, und erreicht eine Höhe von 75 m. Auffallend ist die Form, die aus übereinander verschachtelten, sphärisch-langgezogenen Fragmenten besteht, die sich energisch in die Waagerechte bewegen. Dabei reizt Calatrava die Gesetze der Statik bis zum fast Irrealen aus, da sich das Gebäude in Richtung Osten in den Obergeschossen über einen leeren Raum ohne Stützen hinauslehnt. Die gespaltene Kuppel entstammt Plänen Gottfried Böhms für den Berliner Reichstag, ist hier aber in die Bewegung hinein entwickelt worden. Die Außenhaut der Oper ist mit einem weißen Keramikmosaik überzogen, das der Opernoberfläche so etwas wie einen Piña Colada -Zuckerrand verpasst.

Oper und Planetarium im Hemisfèric

  1. Auch das Hemisfèric von 1998 besteht aus übereinander liegenden Kugeln. Die äußere, gläserne Hülle hat die Form eines Auges und umschließt als eine Art Wandelhalle die Kuppel eines Planetariums, in dem auch Naturfilme gezeigt werden. Aus der Distanz, über einem Wasserspiegel liegend, ergibt sich das Bild eines Auges mitsamt Augapfel.

Hemisfèric

Hemisfèric innen

  1. Das Museo de Ciencias Príncipe Felipe von 2000 bietet in einem dreigeschossigen, basilikaartigen Bau eine Ausstellungsfläche von 26 000 m2. Gezeigt werden Ausstellungen zu unterschiedlichsten Wissenschaftsthemen. Auch dieser Bau neigt eklatant zur Asymmetrie und spielt gegen die Gesetze der Statik. Während die nördliche Seite aus einem gebogenen Glasvorhang besteht, wird die Last der dreigeschossigen Struktur auf der Südseite von schräg stehenden Strebepfeilern nach dem Vorbild der Sagrada Familia gehalten. Sie wachsen in den Obergeschossen zu Rhomben zusammen. Wie im gesamten Park weiten und verjüngen sich die tragenden Rippenstrukturen, so dass das Verhältnis von Tragen, Lasten, Emporziehen ausdrucksstark durchgespielt wird.

  1. Begleitet wird die langgezogene Form des Museums vom „Umbracle“, einem mediterranen Garten mit einer aus Ellipsen bestehenden Schatten spendenden Pergola, die eigentlich nur Bekrönung einer Tiefgarage ist, aber zum Großbalkon wird. Von hier aus kann man fast das gesamte Gelände erfassen, ebenso wie von den beiden dynamisch gestalteten Brücken Calatravas. Wie in der Außenhaut der Oper werden bekrönende Pavillons hier mit dem bei Gaudì entlehnten weißen oder blauen Keramikmosaik des Trencadìs überzogen.

  1. Die Àgora ist ein unvollendetes elliptisch überkuppeltes Gebäude mit bislang nicht geklärter Funktion. Es wurde der Stadt Valencia vom Architekten vorgeschlagen und sollte zur Trophäenüberreichung des America`s Cup dienen, für den in Valencia vielfältig gebaut wurde. Weder zu diesem Ereignis noch zu einer nachfolgenden Tennismeisterschaft war der Bau fertiggestellt, der mit beweglichen Elementen im Dachbereich auftrumpfen sollte. Er wurde von 2009 bis 2014 unvollendet genutzt. Die beweglichen, flügelartigen Dachbekrönungen verrotteten derweil auf einem Lager nahebei, wurden von der Vegetation überwuchert oder von Schrotthändlern gestohlen. Bis heute steht der Bau, der ein wenig an eine etwas aufgeregte, sich senkrecht stellende Miesmuschel erinnert, leer.

Abbildung: Wissenschaftszenrum, Àgora und Umbracle

  1. Das Oceanogràfic wiederum ist ein gartenartig angelegter Aquariumsbereich mit unterirdischen Fischbecken unterhalb jeweils sehr unterschiedlicher Pavillons von Félix Candela, einem der Lehrer Calatravas. Sie wurden gestaltet in einer zum Teil leichten, poetischen Architektur, die anders als Calatrava jede monumentale Geste vermeidet. Das Projekt ging direkt an Candela; Calatrava erfuhr davon aus der Presse.

Die beiden letzten Unterfangen machen deutlich, dass in Valencia nicht alles harmonisch verlief. Der spanische Journalist Llàtzer Moix hat in einem ausführlichen Buch die finanziellen und politischen Hintergründe u.a. auch dieses Calatrava-Projektes erforscht. Er gelangt zu einem gegenteiligen Schluss: Die Zusammenarbeit mit Santiago Calatrava desillusionierte die Region, die mittlerweile auf Schulden von 30 Milliarden Euro sitzt. Davon gehen 15% auf fehlgeleitete Bauprojekte der letzten 30 Jahre zurück. Alles in allem hat die Ciudad de las Ciencias y de las Artes 1.3 Milliarden Euro verschlungen und stellt eines der größten städtebaulichen Desaster in Spanien dar. Von den Baukosten gehen allein 100 Millionen Euro nur auf Calatravas persönliche Honorare zurück. Ursprünglich hatte Calatrava noch drei Wolkenkratzer geplant, die dann nicht gebaut wurden, da weder der Bedarf noch der Baugrund dafür geeignet waren, kassierte aber dennoch ein Planungshonorar von 15 Millionen Euro dafür. Ein besonderes Problem stellten die Funktionsmängel dar. Als zum Beispiel Mitarbeiter Calatrava auf die fehlenden Toiletten im Wissenschaftsmuseum hinwiesen, soll der Architekt gesagt haben, der Parthenon sei auch ohne Abtritt ausgekommen. Man fragt sich: Woher weiß das Herr Calatrava? Als sich bei den Arbeiten an der Oper herausstellte, dass die Bühne nicht von allen Plätzen aus sichtbar war und ein Mitarbeiter eine alternative Planung vorschlug, wurde dieser entlassen. Angestellte Calatravas wurden in regelmäßigen Abständen gemobbt und gefeuert, das Büro war nie ausreichend mit Personal besetzt und Planungen wurden bei der Budgeterstellung unvollständig eingereicht. Resultat waren astronomische Kostensteigerungen. Der Pont Nou d’Octubre sollte ca. 200 Millionen Peseten kosten und kostete dann das Doppelte. Nach Abschluss der Bauarbeiten verklagte die Stadt Valencia Calatrava, man einigte sich allerdings auf einen Vergleich.

Calatrava ignorierte zudem das Materialwissen seiner Bauunternehmer konstant, sodass eklatante Mängel auftraten. Die Kachelfassade der Oper musste nach kurzer Zeit komplett erneuert werden, da sie zunächst Blasen warf, dann wie ein zerknittertes Hemd aussah und schließlich die Fassade hinunterrutschte. In den meisten Gebäuden traten Wasserschäden auf, die unter anderem durch die dekorativen Teiche entstanden, in denen sich die Gebäude spiegeln sollen. Wer wie Narziss baut, wird irgendwann wie Narziss im Wasser landen.

Bis heute ist die Verkehrsanbindung vor allem durch Linienbusse geregelt, die im Sommer eher eine Tortur darstellen als ein Verkehrsmittel. Dazu kommt, dass die Oper oft nicht spielt; Konzert- und Opernsaison sind in ganz Südeuropa im Vergleich zu Deutschland ernüchternd kurz. Das Wissenschaftsmuseum ist in aller Regel nicht ausgelastet, die Ausstellung im Vergleich zum Deutschen Museum in München eher durchschnittlich interessant. Das Aquarium, kein Bau Calatravas, funktioniert jedoch prächtig und ist ein wirklicher Publikumsmagnet.

Einige der politischen Protagonisten der Jahre 1990 bis 2010 in Valencia landeten wegen Korruption vor Gericht oder sogar im Gefängnis. Die eigentliche Motivation für Calatravas Projekt muss für viele Provinzhonoratioren nach 1990 der Niedergang der lokalen Industrien Valencias im Kontext der EU-Erweiterung Richtung Osten und der Globalisierung gesehen werden. Die spanische Wirtschaft investierte nun in die Immobilienbranche und ein enormer Bauboom setzte ein. Gewinnmargen von bis zu 20% schienen möglich zu sein, bis die Blase in der Krise 2007 unversehens platzte. Valencia muss im Zusammenhang dieses Baubooms gesehen werden. Im Lauf des sich vervollkommnenden Projekts stiegen die Immobilienpreise im Umfeld auf das Zehnfache. Honi soit qui mal y pense / Ein Schuft, wer Böses dabei denkt. Nun sitzt die Stadt auf einer Reihe schlecht besuchter Institutionen im Luxusgewand, die mittlerweile ein Defizit von ca. 500 Millionen Euro aufgehäuft haben. Trotz allgemein touristischer, also weicher Standortvorteile kann von Rentabilität keine Rede sein.

Und doch … Valencia steht ja nicht so ganz allein mit diesem Problem da. Man denke nur an die Kölner Oper oder den Berliner Flughafen, die auch teuer sind und waren – und ästhetisch sicherlich nicht mit Valencia wetteifern können. Die Elbphilharmonie in Hamburg ist als Phänomen vergleichbar: unhanseatisch, unbescheiden und von denkbar diskutabler Akustik, aber unverwechselbar. Das Tadj Mahal und Neuschwanstein waren auch nicht rentabel. Überflüssige unbenutzte Architekturcapriccios kennen wir aus manchem deutschen Rokokopark: Man denke nur an das Neue Palais in Potsdam, das Friedrich der Große nur aus Prunk, Trutz und Protz bauen ließ. Und als Blenheim-Castle vollendet war, regnete es durch das Dach auf den Schreibtisch des Hausherrn. Übrigens: Der Kölner Dom hat (wie der Parthenon) auch keinen Abtritt drinnen.

Valencia hat sich ruiniert – aber mit welcher Eleganz und Grandezza!

13. August 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers Dr. Till Busse