Im Schauraum der Republik

Im Zusammenhang mit dem Tag der Deutschen Einheit durfte ich als Gast an der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland – landläufig als „Bundesverdienstkreuz“ bezeichnet – teilnehmen. Wie es dazu kam, ist eine längere Geschichte, die hier nicht erzählt werden soll.

Nach einer etwas unruhigen Nacht in einem Jugendgästehaus – Berlin ist über das lange Wochenende komplett ausgebucht – mache ich mich auf zum Schloss Bellevue. Es ist ein wunderbarer Herbstmorgen. Als ich aus dem Bus der Linie 100 steige, erstrahlt Schloss Bellevue vor blauem Himmel, eingerahmt von noch grünen Bäumen. Auf dem Dach weht die Standarte des Bundespräsidenten und zeigt an, dass sich der Hausherr auf Berliner Stadtgebiet befindet.

Vor dem Zaun steht eine Schulklasse. Ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren referiert, die anderen Kinder lauschen konzentriert dem Vortrag ihrer Mitschülerin. Die Kleine ist sehr gut vorbereitet und bringt die Geschichte des Schlosses in knappen Sätzen nahezu fehlerfrei zu Gehör. Ich muss hier nur wenig ergänzen:

Ferdinand, der jüngste Bruder des preußischen Königs Friedrich II., ließ Bellevue nach Plänen des Architekten und Baumeisters Michael Philipp Boumann errichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das ausgebrannte Schloss in den 1950er Jahren als Amtssitz des Bundespräsidenten hergerichtet.

Bis zur Wiedervereinigung nutzten die Präsidenten Schloss Bellevue nur gelegentlich und übten ihr Amt vor allem von der der Bonner Villa Hammerschmidt aus. Nachdem die Alliierten den Viermächtestatus über Berlin am 1. Oktober 1990 suspendiert hatten, konnte Richard von Weizsäcker in seinem letzten Amtsjahr den ersten Amtssitz offiziell nach Berlin verlegen.

Bereits einige Jahre zuvor hatte von Weizsäcker das Schloss umfassend umgestalten und einige Empire-Möbel aus Schloss Wilhelmshöhe in Kassel als Dauerleihgabe ins Schloss Bellevue überführen lassen. Ob dies aus hellsichtiger Erwartung erfolgte oder doch eher aus Unzufriedenheit mit der Ausstattung im Stil der Nachkriegsmoderne, ist der Spekulation überlassen.

Fest steht, dass von Weizsäckers Nachfolger Roman Herzog, der als einziger Bundespräsident tatsächlich in Bellevue wohnte, das Schloss mit Blick auf die sich häufenden Pannen und technischen Mängel als „Bruchbude“ bezeichnet hat. Anfang des 21. Jahrhunderts wurde das Schloss dann saniert, wobei die Repräsentationsräume weiterhin im Stil der 1980er Jahre gehalten sind, also eine Verbindung zwischen alten Dekorationsformen mit neuen Materialien suchen.

Die Kinder klatschen, und auch ich bin sehr beeindruckt. Als ich dann meine Einladungskarte mit dem eingeprägten Bundesadler hervorhole, sind alle aus dem Häuschen, zumal unter den heute Geehrten auch der Astronaut Matthias Maurer und der Fußballspieler Neven Subotic sein werden. Beide soll ich herzlich von der Klasse 4c einer Grundschule aus Kreuzberg-Friedrichshain grüßen. Die Kinder wünschen mir viel Glück und winken zum Abschied.

Auf dem Rasen vor dem Schloss treffe ich dann den Astronauten Maurer zusammen mit Fairtrade-Pionier Dieter Overath, der ebenfalls das Bundesverdienstkreuz erhalten wird. Gemeinsam betreten wir das Schloss. Bis zur Zeremonie bleibt noch etwas Zeit, um sich umzuschauen im Schauraum der Republik.

Es ist erstaunlich, denke ich, dass die Bundesrepublik als parlamentarische Demokratie gewissermaßen in das Gehäuse der preußischen Monarchie gezogen ist, obschon sie von Preußens Glanz und Gloria aus gutem Grund wenig wissen will. Die schnurrbärtigen Hohenzollern und ihre Generäle mit Monokeln und Nagelstiefeln haben ausreichend Unglück über Deutschland und die Welt gebracht, um sie in die Dunkelkammern der Geschichte zu verbannen.

Hier aber begrüßt einen im Treppenhaus König Friedrich Wilhelm III. zu Pferde auf einem Ölgemälde von Franz Krüger (1832) – einer „Leihgabe des Hauses Hohenzollern, SKH Georg Friedrich Prinz von Preußen“, wie es auf der Internetseite des Bundespräsidenten heißt. Ich hätte an dieser Stelle irgendwas Abstraktes von K.O. Götz oder Gerhard Richter erwartet. Moderne Kunst findet sich zwar auch, kann aber kaum als raumprägend gelten. So geht es im zweiten Stock weiter, wo man von Antonio Schraders „Parade unter den Linden“ (ca. 1817) empfangen wird. Auch in den angrenzenden Räumen kann man sich im 19. Jahrhundert wähnen, wären da nicht die Menschen in ihren modernen Anzügen und Kleidern.

Alle werden von den Mitarbeitenden des Präsidenten freundlich empfangen und in den Langhanssaal gebeten, der keineswegs nach dem Berliner Kommunarden und Bürgerschreck Rainer Langhaans benannt ist. Hier findet nur eine kurze Zwischenstation auf dem Weg zur eigentlichen Zeremonie statt. Fleißige Bedienstete reichen Getränke, ein Glas geht unvermeidlicherweise klirrend zu Bruch.

Dann öffnen sich die Türen zum Großen Saal, und nun bietet sich ein anderes Bild. Der größte Raum des Schlosses wird dominiert von zwei riesigen „Kissenbildern“ des Malers Gotthard Graubner. Die beiden abstrakten Farbraumkörper an den Stirnseiten des Saales bilden zusammen das Werk „Begegnungen“. Graubner hat sie 1988 vor Ort geschaffen. Obschon der Rest der Ausstattung keineswegs als modern gelten kann, sorgt Graubners Kunstwerk doch für eine zeitgemäß republikanische Anmutung.

Wieder öffnet sich die Tür, herein kommen der Präsident und seine Frau und begrüßen die Gäste mit einem freundlichen „Guten Morgen“. Nach einer kurzen erwartungsvollen Stille betreten fünf junge Musikerinnen und Musiker den Raum – barfuß. Sie spielen ein beschwingtes Klezmer-Stück. Das geht irgendwie immer, tut niemandem weh und erfreut alle. Menzels Flötenkonzert ist weit weg.

Dann spricht der Bundespräsident – in gewohnt ruhigem Ton, freundlich, aber ernsthaft angesichts der großen Herausforderungen, bestimmt mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, aber ohne Säbelrasseln. Alle Anwesenden, darunter die 20 zukünftigen Ordensträgerinnen und Ordensträger, werden so gedanklich hineingenommen in die große zivile Fronde gegen den Imperialismus, aber auch gegen einen Populismus, der aus den aktuellen Krisen politisches Kapital schlagen will. Die Botschaft ist klar: Hier haken sich herausragende Kräfte aus Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft unter.

„Wir müssen unsere Demokratie wehrhafter machen, wehrhafter nach außen und wehrhafter nach innen“ fordert der Präsident. Aber – und das ist die Pointe – das Motto des Tages lautet „Brücken bauen“. Die Demokratie kann nur verteidigt werden, indem man Verbindungen aufbaut und pflegt, indem man sich mit gegensätzlichen Standpunkten auseinandersetzt, nach Ausgleich und Kompromissen sucht.

Brücken baut der Astronaut in der internationalen Raumstation ISS ebenso wie der Fußballspieler, der sich für humanitäre Zwecke einsetzt. Brücken bauen auch die Übersetzerin aus dem Ukrainischen und die Architektin, die moderne Gestaltungsprinzipien mit traditionellen Baustoffen und -weisen verbindet. Zivilgesellschaftlicher Dialog, medizinische Versorgung auf dem Land, Umwelt- und Klimaschutz, globale Gerechtigkeit sowie der Kampf gegen Corona sind Felder, auf denen sich die heute ausgezeichneten Personen mit herausragenden Leistungen hervorgetan haben. Sie, die der Bundespräsident als „Geschenk für unser Land“ bezeichnet, stehen im Mittelpunkt der Zeremonie. Die demokratische Republik feiert ihr bürgerschaftliches Engagement in einem monarchischen Gehäuse, das sie sich anverwandelt hat.

Zum Abschluss spielen die jungen Musiker die Nationalhymne – barfuß und instrumental. Das Mitsingen sei zu unterlassen. Sicher wäre trotz monarchischer Kulisse niemand auf die Idee gekommen, zu Haydns Weise „Gott erhalte Franz den Kaiser“ zu singen oder gar „Deutschland, Deutschland über alles“. Aber so zart, leicht schwebend, ertönt die Melodie des Kaiserquartetts, so ganz ohne zapfenstreichiges Tschingderassabum, dass jeder Gesang sie wohl erdrückt hätte.

Vor dem Fenster wehen derweil im goldenen Herbstlicht die Farben Schwarz-Rot-Gold und schlagen die Brücke zum Hambacher Fest, zur Märzrevolution und zum Paulskirchenparlament von 1848, zum Reichsbanner der Weimarer Koalition und auch zur friedlichen Revolution von 1989/90.

Vielleicht ist es gerade dieser selbstbewusst-gelassene Umgang mit den Überlieferungen vergangener Zeiten, der eine starke Demokratie auszeichnet. Die Anhänger der Monarchie haben es Republik und Demokratie in Deutschland nicht leicht gemacht. „Schwarz-Rot-Senf“ war noch eine der harmloseren Verunglimpfungen, die sie für die Insignien der freiheitlichen Ordnung erfanden. Nun wehen diese Farben in ihren Palästen, denkt man bei ihren Klängen an Einigkeit und Recht und Freiheit statt an Thron, Schwert und Zepter.

Man bleibt noch eine ganze Weile beisammen und unterhält sich angeregt. Als ich mich am Nachmittag verabschiede, strahlt noch immer die Sonne. Ich drehe mich noch einmal um. Im Haupteingang stehen jetzt Neven Subotić und seine Begleitung. Irgendwie ist es ja auch ihr Haus.

Weitere Informationen

Die Internetseite des Bundespräsidenten bietet eine schöne Darstellung des Schlosses.

Ebenfalls auf der Internetseite des Bundespräsidenten findet sich ein Artikel mit Video zur Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland am 30. September 2022.

Bildnachweise

Der Große Saal des Schloss Bellevue. Bild: Matthias Lehnert

Das Schloss Bellevue am 30.9.2022. Bild: Matthias Lehnert

Reiterporträt Friedrich Wilhelms III. von Franz Krüger (1831)

Die georgische Präsidenten Salome Zourabichvili und ihre Delegation zu Besuch bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Langhanssaal des Schloss Bellevue (Mai 2022). Giorgi Abdaladze, Administration of the President of Georgia CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Ereignisblatt aus den revolutionären Märztagen 18.-19. März 1848 mit einer Barrikadenszene aus der Breiten Strasse, Berlin. Via Wikimedia commons, gemeinfrei

6. Oktober 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert