Bildbetrachtung: Noli me tangere

Die weiße Postkarte habe ich im vergangenen Jahr aus einer Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle mitgenommen. Es handelt sich dabei um eine Miniatur von KP Brehmers Noli me tangere aus dem Jahr 1975. Sein Druck dürfte wohl eine der eigenwilligsten Bearbeitungen des in der Malerei seit Jahrhunderten beliebten Sujets sein. Wir sehen: ein weißes Blatt, darauf einige konvexe weiße Punkte im Prägedruck. Das ist alles. Kein Jesus, der sich windend der Berührung Maria Magdalenas entzieht. Keine am Boden kauernde Maria Magdalena, die mit ausgestreckten Armen nach ihrem geliebten Meister greifen will. Alle Bildelemente, die es dem Kundigen erlauben, das Motiv mit einem Blick zu identifizieren und in einen Kontext einzuordnen, sind hier weggenommen.

Was bezweckt der 1997 in Hamburg gestorbene Grafiker, Maler und Filmemacher, dessen übriges Schaffen um die Visualisierung politischer Phänomene kreist, mit diesem Werk? Ist es bloßer Schabernack? Oder bewusste Religionskritik? Will sich Brehmer, wie Monika Köhler in der Zeitschrift „Ossietzky“ schreibt, das Evangelium aneignen, „um es zu zerstören“? Vielleicht. Fest steht, dass Brehmer nicht weiter als Exeget oder Illustrator biblischer Texte in Erscheinung getreten ist.

Aber ungeachtet der Intention des Künstlers kann sein Werk auch ein Schlüssel zum Verständnis des Evangeliums sein. Denn tatsächlich ist Maria Magdalena zunächst „blind“ und hält den Mann am Grab für den Gärtner. Sie wendet sich ab, und erst als sie Jesus mit ihrem Namen anspricht, erkennt sie ihn. Als Maria Magdalena Jesus aber berühren möchte, weist dieser sie zurück. So bleibt ihr nur das Wort, das in der überarbeiteten Luther-Übersetzung von 2017 so klingt: „Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ (Joh 20, 17).

Wie Maria Magdalena möchten auch wir berühren, um zu verstehen. Wir müssen uns Brehmers Werk als „Blinde“ stellen, die den Bedeutungsgehalt nur ertasten können. Dabei würden wir unwillkürlich zurückzucken, könnten aber die verbotene Berührung nicht ungeschehen machen. Hier nun mag der Unterschied zwischen der griechischen und der lateinischen Fassung der Bibelstelle weiterhelfen. Die Malerei stützt sich wie Luther auf das lateinische Wort „Noli me tangere“ – „Rühre mich nicht an!“. Das impliziert, dass Jesus den Versuch einer Berührung zurückweist, wie wir es auf den Gemälden von Giotto, Fra Angelico oder – wie hier im Bild – von Veronese sehen.

Das wird treffender mit „Halte mich nicht fest!“ übersetzt, würde also eine bereits stattfindende Berührung voraussetzen. Entsprechend lesen wir auch in der neuen Einheitsübersetzung der Bibel von 2016: „Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen.“ (Joh 20, 17)

Es geht hier um eine Bewegung, die nicht aufgehalten werden soll, eine doppelte Bewegung sogar. Denn während Jesus auf dem Weg zum Vater ist, sendet er Maria Magdalena zu den Jüngern und macht sie so zur ersten Verkünderin der Auferstehungsbotschaft. Nicht die Berührung ist problematisch, sondern das Festhalten-Wollen, das Beharren, das sich mit dem privaten Glück zufrieden gibt. Dem entgegen steht der Auftrag: das im wahrsten Wortsinne Unfassbare zu verkünden. Und zu glauben, ohne zu sehen, ohne zu greifen.

Vielleicht ist KP Brehmer mit seinem strahlend weißen Blatt, das nichts zeigt und nicht berührt werden soll, eine wunderbare Illustration dieses Auftrags gelungen. Wo es nichts zu sehen gibt, wo keine Berührung möglich ist und keine Stimme spricht, bleibt nur der Glaube.

Bilder:
Ausstellungspostkarte der Hamburger Kunsthalle von KP Brehmers „Noli me tangere“ (1975). Paolo Veronese (um 1580): Noli me tangere. Das Bild befindet sich im Musée des Beaux Arts in Grenoble. Public domain.

13. April 2020 || Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR