Igor Strawinskys Schweizer Jahre im ersten Weltkrieg
Ferdinand Hodler – Landschaft am Genfersee 1906 (Clarens-Montreux weit vorne links – gemeinfrei)
1910 verlässt Strawinsky St. Petersburg und feiert in Paris seinen Grosserfolg mit dem Ballett «Der Feuervogel», doch kann er nicht bleiben, da seine Frau an Tuberkulose leidet und man in die Schweiz nach Leysin zur Kur fährt. Er lässt sich währenddessen in Clarens bei Montreux nieder, wo seine nächsten Kompositionen «Petruschka» und «Le Sacre du Printemps» langsam Form annehmen. Die Quartierbewohner ärgern sich allerdings über den Russen, der bei offenem Fenster wild auf sein Klavier einhämmert. Hier kommt es zur ersten Begegnung mit Ernest Ansermet, dem Botschafter der modernen Musik und Leiter des Kursaal-Orchesters von Montreux. Die beiden werden Freunde und dem Russen gelingt es in kurzer Zeit, dank guter Französischkenntnisse und seines weltmännischen Auftretens in den Kreis der dortigen Künstler-Avantgarde vorzudringen.
Strawinsky beim Komitee der «Cahiers Vaudois», der literarischen Avantgarde-Zeitschrift, zusammen mit Ansermet (schwarze Haare und Bart), Ramuz und den beiden Mitbegründern der Bewegung – in einer Schenke mitten im Lavaux-Gebiet. – gemeinfrei
Ansermet hat die drollige Idee, den russischen Dandy mit dem knorrigen Dichter des Waadtlandes Charles-Ferdinand Ramuz zusammenzubringen. Er fährt mit Strawinsky bis nach Rivaz im Lavaux, wo Ramuz die beiden über die Wein-Terrassen bis zu einer hoch oben gelegenen Gaststätte führt. Man plaudert bei Käse, Brot und Wein bis in die Nacht, um dann bei Dunkelheit torkelnd zu Ramuz’ Wohnsitz von Treytorrens am See zu gelangen.
Ort der Begegnung im Weingebiet – ganz vorne unten am See: Treytorrens (Foto J. Zemp)
Die Zusammenarbeit kann beginnen: Der Komponist hatte früher schon eine russische Fassung des mittelalterlichen «Roman de Renard» vertont. Ramuz unterlegt der Musik nun einen französischen Text, der dem Rhythmus des russischen Werks gerecht wird. RENARD ist eine Posse für Tänzer, Vokalensemble und kleines Orchester, wobei hier ein ungarisches Cymbalum mitwirkt, das Strawinsky zusammen mit Ansermet in einer Genfer Quartierbeiz entdeckt hat.
Strawinskys Reisen in die Ukraine, dem Land seiner Wurzeln, fördern neue russische Quellenmaterialien zutage: Mit der Kantate NOCES beschreibt er eine Bauernhochzeit, deren Musik auf einfachen Strukturen beruht, auf einem vertikalen Gerüst und vielen Ostinati mit 4 Klavieren, welche die behäbigen Bauertänze mit akkordischem Gehämmer verdeutlichen (rein optisch gleicht die Partitur Carl Orffs ‘Carmina Burana’). Ramuz liefert dazu eine dem einfachen Code der Westschweizer Bauern entsprechende Übersetzung und Ansermet wird das Werk im Juni 1923 in Paris aufführen.
Aufenthalte zwischen Genfersee und Wallis: 1 Clarens-Montreux, 2 Morges, 3 Lens bei Crans-Montana, 4 Leysin. Wanderung mit Ramuz von Villeneuve bis Lens
Stravinsky bleibt nicht immer der mondäne Künstler. Ramuz entführt ihn eines Tages zu Fuss vom Genfersee bis nach Lens bei Crans-Montana auf 1000 M., wo man sich beim Spitzenkoch und Kunstmaler Albert Muret trifft. Der Russe ist von der hiesigen rustikalen Welt und dem Walliser Alpenpanorama entzückt. – Von einer weiteren Reise in die Ukraine bringt er eine Erzählung des Dichters Afanassiew mit, die Geschichte eines Deserteurs der zaristischen Armee. – Mit Ramuz soll daraus ein waadtländisches Stück für Kleintheater entstehen.
DIE GESCHICHTE VOM SOLDATEN: Parabel, Märchen oder Legende? Als Parabel erinnert sie uns an die Risiken der Grenzüberschreitung, als Märchen zeigt sie den Soldaten in einer Traumwelt (bei der kranken Prinzessin im Schloss), als Legende zeigt sie den typischen Teufelspakt, wo der Mensch sich lange im Vorteil wähnt und am Ende vom Teufel doch noch besiegt wird. Im Besonderen spielt hier die Violine ihr magisches Potential aus, eine Anlehnung an die Welt des «jüdischen Fiedlers» aus der slawischen Welt. – Mit 4 Personen (Lektor, Soldat, Teufel, Prinzessin) und 7 Instrumenten ist die Belegschaft komplett. Geige und Trompete haben virtuose Passagen zu bewältigen, wobei Strawinsky den spröden Klang (Quinten, Quarten, dissonierende Sekunden und Septimen) geradezu zelebriert. Ramuz’ Text verzaubert den russischen Text in eine waadtländische Bauern-Idylle: Aus Smolensk und Wladiwostok werden Denges und Denezy, der Soldat heisst Joseph Dupraz. Sein Weg führt ihn in eine Dorfbeiz in der Art des westschweizerischen «Café du Grutly», wo er sich einen Dreier Dézaley genehmigt. Seine Sprache entspricht dem restringierten Code der Bauern (dazu das häufige «man» anstelle des «ich»). – Der Plot: Auf dem Heimweg zieht der Soldat aus dem Tornister seine Violine und beginnt zu spielen. Da erscheint plötzlich der Teufel und bietet ihm ein Tauschgeschäft an: die Geige gegen Reichtum und paradiesisches Glück (Wein, Frauen usw.). Gesagt getan. Doch bald erkennt Joseph den Betrug und erobert in einem Kampf mit dem Teufel seine Geige zurück, mit deren magischer Kraft er sich erdreistet, im Schloss vorstellig zu werden, um die sterbenskranke Prinzessin zum Leben zu erwecken. Dort meldet er seine Dienste als «Armeearzt» an und wird zur Patientin vorgelassen. Die Violine soll’s richten: Im Sterbezimmer hebt der Geigenvirtuose zu den drei Tänzen Tango, Walzer und Ragtime an:
Die Königstochter öffnet ihre Augen, steht auf und folgt der Musik wie in Trance mit einer Pirouette. Wie Joseph sich eben anschickt, seine Prinzessin wie eine Trophäe in sein Dorf zu führen, ist der Teufel schon zur Stelle: «Wer über die Grenzen geht, wird in mein Reich zurückfallen» zischt es zähnefletschend aus seinem Mund, bevor er mit einem «Marche triomphale» seinen Sieg feiern wird, befeuert von dissonierenden Doppelgriff-Akkorden der Violine und den wilden Schlägen der Trommel.
Das Stück wird in Lausanne am 28. Sept. 1918 unter Ernest Ansermet uraufgeführt, doch weitere Aufführungen sind wegen der grassierenden Spanischen Grippe erst 1919 wieder möglich.
Plattenhülle der hochkarätigen Aufnahme unter Charles Dutoit, mit Ramuz’ Konterfei, gezeichnet im Juni 1918 von seinem Freund Strawinsky (Foto J. Zemp)
Strawinski verlässt 1920 seine Westschweizer Freunde, seine Kontakte zu Ramuz verflüchtigen sich im Lauf seines globalen Wirkens, doch Ansermet wird ihn weiterhin fördernd begleiten und viele seiner späteren Werke uraufführen.
C.F. Ramuz und I. Strawinski 1918 (© Fondation Th. Stravinsky)
Q U E L L E N:
C.F. Ramuz, Souvenirs sur Igor Strawinsky, éd. de l’Aire, Lausanne 1978
Wolfgang Burde, Strawinsky, Leben, Werke, Dokumente, Schott, Mainz 1993
Le dialogue de Stravinsky et d’Ansermet, lecture par. J. Starobinski (SNB)
A U F N A H M E N:
RENARD:
Platte von 1965 in Genf unter E. Ansermet
2 Youtubes als Filme
NOCES:
CD Hyperion 1990 (London)
Viele Youtubes, auch mit Partitur zum Mitlesen
L’HISTOIRE DU SOLDAT: Unzählige CD’s und Youtubes als Theater (oder Ballett) in vielen Sprachen
21. Oktober 2023 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.
Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.