Auf ein Wort mit … Dr. Hrayr Baghramyan
Lieber Hrayr, seit 2007 haben wir bereits acht Ferienakademien nach Armenien angeboten. Du bist dabei von Beginn an unverzichtbarer Bestandteil und öffnest uns durch Dein Wissen, Deine Kontakte und nicht zuletzt auch Deine Sprachkenntnisse Tür und Tor vor Ort. Zuletzt hast Du unsere Gäste vor rund sieben Wochen erst in Yerevan verabschiedet. Für all‘ diejenigen, die nicht dabei waren – welche bedeutenden Sehenswürdigkeiten oder historischen Stätten sollte man in Armenien unbedingt besuchen, um das kulturelle Erbe des Landes besser zu verstehen?
Liebe Sandra, zuerst möchte ich mich bei TMA bedanken, dass ich die Ehre habe, seit 2007 die Gruppen der Akademie durch Armenien zu begleiten. Ich öffne gerne mein Wissen gegenüber den Gästen der Akademie, weil ich selber sehe, mit welch großer Interesse und Begeisterung die Gäste das Land mit seinem kulturellen Erbe und Menschen kennen lernen wollen.
Zwar gilt das Land als ein Museum unter freiem Himmel und hat über 25.000 Denkmäler auf einer Fläche von knapp 29.800 km, aber das Programm, was die Akademie ihren Gästen anbietet, umfasst mehr oder weniger die wichtigsten Sehenswürdigkeiten und historischen Stätten des Landes, die man zeitlich innerhalb von 9 Tagen besuchen kann. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Akademie großen Wert auf Begegnungen mit Menschen und Organisationen legt, die das Programm sehr bereichern und interessant machen – aber auch eine bestimmte Zeit beanspruchen.
Während die Augen aller weiterhin größtenteils auf den endlos scheinenden Krieg zwischen der Ukraine und Russland gerichtet sind, spitzt sich die Lage in Bergkarabach – von vielen in Europa nahezu unbemerkt – weiter zu. Der für die in Bergkarabach lebenden Menschen notwendige Latschin-Korridor wird bereits seit Dezember 2022 durch azerbaidschanische Streitkräfte blockiert. Was kannst Du zur aktuellen Lage berichten? Welche Befürchtungen hat man in der Hauptstadt – auch angesichts des nahenden Herbstes und Winters?
Der Konflikt um Bergkarabach, aber vor allem die aktuelle Lage dort, ist in Deutschland nicht so bekannt, weil es für die deutsche Presse und Politik aus bestimmten Gründen nicht so wichtig ist.
Seit mehr als 250 Tage ist die Region Bergkarabach, wo ausschließlich armenische Bevölkerung lebt, durch Aserbaidschan blockiert. Am 12.Dezember 2022 haben die Aserbaidschaner den von den russischen Friedenstruppen kontrollierten Latschin Korridor, der als die einzige Lebensstrasse zwischen der Republik Armenien und 120.000 in Bergkarabach lebenden Armenien existierte, geschlossen. Seit Juni dieses Jahres dürfen nicht einmal die Fahrzeuge vom internationalen Roten Kreuz und der russischen Friedenstruppen durch diesen Korridor fahren, um Lebensmitteln oder dringend benötigte Medikamente zu transportieren. Seit Beginn der Blockade wurde die Gas-und Stromversorgung aus Armenien nach Bergkarabach gekappt und seit einigen Tagen nun auch die Internetverbindung. Die Bevölkerung von Bergkarabach ist in absoluter Isolierung und unter Gefahr der ethnischen Säuberung. Die Situation wird in den Herbst-und Wintermonaten ohne Heizung selbstverständlich vor allem für die kleinen Kinder und älteren und kranken Menschen noch tragischer sein.
Das Lemkin-Institut für Völkermordprävention hat auf die besorgniserregende Situation, in der armenische Zivilisten Hunger leiden und keinen Zugang zu dringend benötigter medizinischer Versorgung haben, aufmerksam gemacht: www.lemkininstitute.com
Der tragische Tod von K. Hovhannisyan, 40 Jahre alt, am 15. August 2023 aufgrund von Unterernährung, verdeutlicht auf tragische Weise die schwerwiegenden Folgen der aserbaidschanischen Blockade von Bergkarabach. Berichte sowohl des Gerichtsmediziners als auch des medizinischen Untersuchungsbeamten von Bergkarabach liefern überzeugende Belege dafür, dass die Blockade unmittelbar für die zunehmende Unterernährung, Fehlgeburten und schwere medizinische Komplikationen verantwortlich ist.
Die Letalität anhand der fehlenden Medikamente, vor allem bei chronisch kranken Menschen, ist fast drei Mal so hoch, ebenso wie auch die Zahl der Fehlgeburten um ein 2,5-faches gestiegen ist. Die Krankenwagen können die Patienten nicht erreichen, weil es kein Benzin oder Diesel mehr gibt. Auch das örtlich angebaute Gemüse und Obst erreicht die Menschen in der Stadt nicht, weil die Bauer ihre Ernte wegen fehlendem Brennstoff nicht transportieren können. Dazu beschießen die aserbaidschanischen Militäreinheiten die armenischen Bauer, wenn sie versuchen ihre Felder zu bewirtschaften.
Aserbaidschan leistet sich, alle möglichen Aufrufe der internationalen Gemeinschaft und der EU zu ignorieren und droht der armenischen Bevölkerung von Bergkarabach und Armenien mit einer neuen militärischen Operation. Statt in diesem Fall gegen Aserbeidschan irgendwelche Sanktionen einzuführen, schließt man mit Aserbaidschan neue Gasverträge, wie sie erst kürzlich zwischen Budapest und Baku unterzeichnet wurden.
Um mehr über das Schicksal der in Bergkarabach lebenden Menschen und über die Geschichte des Konflikts zu erfahren, appelliere ich an alle Interessierten, den Vortrag von Matthias Kopp am 6. September 2023 zu besuchen. (Zur Veranstaltung)
Um den Konflikt zwischen Armenien und Azerbaidschan zu verstehen, muss man streng genommen gut einhundert Jahre zurückgehen. Er ist der älteste ungelöste Konflikt im postsowjetischen Raum. Hast Du als Armenier noch Hoffnung auf eine dauerhafte, friedliche Lösung?
Von Tag zu Tag wird die Hoffnung weniger, auch wenn man sieht, wie die internationale Gemeinschaft reagiert. Es gibt keine Empörung über die mittlerweile faschistische Haltung des aserbaidschanischen Präsidenten gegenüber der armenische Bevölkerung von Bergkarabach und überhaupt gegenüber allen Armenier und deren Kultur weltweit. Stattdessen wird er von einigen europäischen Politikern gern gesehen und wird z.B. von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Frau Ursula von der Leyen, als vertrauensvoller Partner von Europa bezeichnet.
Welche konkreten Maßnahmen würdest Du Dir von internationalen Akteuren wünschen, um eine nachhaltige Lösung für die Situation in Bergkarabach zu finden und die Stabilität der Region zu gewährleisten?
Eine entsprechende Haltung, wie man es im Falle des Ukraine-Konfliktes hat: Einführung der strengsten Sanktionen und in diesem konkreten Fall auch Eröffnung einer Luftbrücke zwischen Bergkarabach und der restlichen Welt unter UNO-Mandat für die Lieferung der humanitären Hilfe. So, wie die Welt es bei anderen ähnlichen Konflikten auch gemacht hat, wenn man es auf dem Boden nicht schafft, Aserbeidschan dazu zu bewegen, diesen Lebenskorridor zwischen Bergkarabach und Armenien zu öffnen. In der nahen Zukunft begrüßenswert wäre außerdem die Verschickung einer internationalen Friedenstruppe unter UNO Mandat in die Region, bevor die Menschen dort in diesen ghettoisierenden Verhältnissen verhungern und vertrieben werden oder auch ein neuer Krieg ausbricht.
Ende Oktober wirst Du u.a. zu Gast in Bensberg sein, um einen Vortrag zum „Kaukasischen Knoten“ zu halten (Zur Veranstaltung). Was dürfen unsere Gäste an diesem Abend erwarten?
Die Gäste erfahren über die aktuelle Situation und den Interessenkonflikten zwischen den kaukasischen Republiken und den Nachbarstaaten sowie der großen Mächte, die Ihre Interessen im Kaukasus haben, wie Russland, USA, EU, Türkei, Iran, Israel, Indien und China. Ich werde u.a. auch über die Völker und religiöse Vielfalt des Kaukasus sprechen, die auch einige der unterschiedlichen Interessen erklärt. Der Schwerpunkt werden die Situation in Armenien und die jüngsten Entwicklungen der letzten Jahre sein.
Zu guter Letzt eine Frage, die ich üblicherweise nur in der Kategorie „Ich packe meinen Koffer …“ stelle: wenn Du Armenien für längere Zeit verlässt, welcher Gegenstand darf in Deinem persönlichen Gepäck nicht fehlen?
Getrocknete Aprikosen und Schokolade mit getrockneten Früchten für meine Freunde in Deutschland.
Lieber Hrayr, wir danken Dir für dieses Gespräch und senden herzliche Grüße nach Yerevan, Armenien.
Lieber Hrayr, wir freuen uns auf unsere gemeinsame Veranstaltung.
Das Interview führte Sandra Gilles, Leiterin Referat Ferienakademien.
Gesprächsabend
Der kaukasische Knoten
Armenien – Interessenkonflikt der großen Mächte
23. Oktober 2023 (Mo.), 19.00-21.00 Uhr
in der Thomas-Morus-Akademie Bensberg
Einmal im Monat erscheint „Auf ein Wort mit…“ und stellt interessante und engagierte Personen vor, mit denen die Akademie auf unterschiedliche Weise verbunden ist. Gesprochen wird über Gott und die Welt, über Kunst und Kultur, über Aktuelles aus Gesellschaft und Kirche ….
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3. September 2023 || ein Gespräch mit Dr. Hrayr Baghramyan, Reiseleiter und Germanist
Er lebt in Yerevan und begleitet seit 2007 regelmäßig die Ferienakademien nach Armenien.