Sonntagsworte aus der Akademie
In meiner Textsammlung ist eine Geschichte, die einen Dialog von Sokrates mit einem „aufgeregten Menschen“ beschreibt. Ich habe diese Geschichte Jugendlichen erzählt, als ich als Theologische Assistentin bei der KSJ in Münster gearbeitet habe und erzähle sie weiterhin als Kuratin der DPSG (Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg). Ich weiß, dass Jugendliche Kriterien und Anhaltspunkte suchen, um ein Wertegerüst für ihr Leben zu bauen und eine Verdeutlichung, die Beschreibung eines konkreten Moments immer willkommen ist.
Ich habe die Geschichte vor Kurzem auch bei einer Feier zu einem 55. Geburtstag im kleinen Kreis erzählt, also in einer Runde von Menschen, die wissen, wo es lang geht, die falsch von richtig unterscheiden, Kriterien bei Entscheidungen parat haben. Ob die Geschichte hier Relevanz hat? Ich habe also vorgetragen, was Platon über Sokrates, der 470 v. Chr. in Athen geboren wurde und 399 v. Chr. zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt wurde, erzählt:
Zum weisen Sokrates kam einer und sagte: „Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen!“
„Halte ein!“ unterbracht ihn der Weise, „hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“
„Drei Siebe?“, fragte der andere voller Verwunderung.
„Ja, guter Freund! Lass sehen, ob das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht: Das erste ist die Wahrheit. – Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?“
„Nein, ich hörte es jemanden erzählen und…“
„So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft. – Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, gut?“
Zögernd sagte der andere: „Nein, im Gegenteil…“
„Hm“, unterbrach ihn der Weise, „so lasst uns auch das dritte Sieb noch anwenden. Ist es notwendig, dass du mir das erzählst?“
„Wichtig ist es nicht und notwendig auch nicht …“
„Also”, sagte lächelnd der Weise, „wenn das, was du mir sagen willst, weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es lieber sein und belaste dich und mich nicht damit.“
Ein Freund reagiert sofort: „Die Geschichte ist ja aktuell wie nie. Wenn Sokrates in die Gruppe der Querdenker bei einer Demonstration zur Impfpflicht geraten wäre, hätte er mit dem Sieb der Wahrheit gefragt, woher sie ihre Gewissheiten nehmen, welche Wissenschaft sie befragt haben. Und mit dem Sieb der Güte hätte er gefragt, ob ihre Überlegungen die kranken, schwachen, alten Menschen einbeziehen. Durch das dritte Sieb der Notwendigkeit kann die Debatte jedoch komplett und zügig gesiebt werden!“
„Ist das nicht mit allen Debatten gerade, die geführt werden?“ fragt ein anderer Freund. „Wir müssen miteinander reden – aber wir sollten mit Fakten arbeiten, mit Gewissheit und wir sollten miteinander fair und zugewandt umgehen, mit Respekt und Anerkennung jedes einzelnen, also mit Güte.“
23. Januar 2022 || ein Gedanke von Karin Dierkes, Akademiereferentin für Theologie und Philosophie