Eine Elf für das 21. Jahrhundert
Die Fußballeuropameisterschaft hat – für die deutsche Mannschaft etwas unglücklich – begonnen. In den kommenden Wochen wird „König Fußball“ das Land regieren. Ein beliebter Volkssport wird dann mit besonderer Leidenschaft betrieben: das Fachsimpeln über die richtige, ja die beste Mannschaftsaufstellung. Fußballfans können Stunden damit zubringen. Hat man sich dann über die aktuellen Kader die Köpfe heißgeredet, wendet man sich zu vorgerückter Stunde der verlockenden Vorstellung zu, eine imaginäre Traum-Elf aus den besten Spielern aller Zeiten zusammenstellen zu können. Geld spielt dabei keine Rolle. Im vergangenen Jahr kürte die französische Fußball-Fachzeitschrift France Football das „Ballon d’Or Dream Team“, auf diese Weise eine fiktive „beste Fußballmannschaft aller Zeiten“, in die neben dem kurz zuvor verstorbenen Diego Maradona und der brasilianischen Kicker-Legende Pelé auch Franz Beckenbauer und Lothar Matthäus gewählt wurden.
Ein Dream Team für die Kirchen
Da meine Fußballverrücktheit eher unterentwickelt ist, kann ich zu diesen Diskussionen wenig beitragen. Aber die Faszination der Mannschaftsaufstellung erschließt sich mir durchaus. Das Prinzip lässt sich ja auch auf andere Bereiche übertragen, etwa auf die Zusammensetzung von Musikgruppen. Aber wie wäre es, eine Aufstellung für die christlichen Kirchen zu ersinnen?
Die Querverbindung zwischen dem Fußball und den Kirchen habe ich in diesem Blog vor einem Jahr einmal gezogen. Damals ging es um taktische Fragen. Heute möchte ich mich auf das spielende Personal konzentrieren. Letztlich machte Jesus auch nichts anderes, als er die Apostel berief: Er stellte sich eine Mannschaft aus zwölf Typen zusammen, denen er die Verbreitung seiner Botschaft zutraute. Dass manche Darstellung der Apostel wie etwa der Holzschnitt von Christian Schmid aus dem 17. Jahrhundert an die beliebten Sammelbilderalben erinnert, fügt sich da durchaus ins Bild.
Im Abstiegskampf der Weltanschauungen
Aber zurück in die Gegenwart, in der die beiden großen christlichen „Traditionsvereine“, die katholische und die evangelische Kirche, ein ziemlich jämmerliches Bild abgeben. Beide befinden sich hierzulande im Abstiegskampf, nachdem sie das Spiel um die großen Fragen im Leben der Menschen über Jahrhunderte dominiert haben. Jetzt ist der Klassenerhalt bedroht. Umso dringender wird die Frage: Womit könnten die Kirchen in dieser Situation punkten? Welche Talente könnten sie aufstellen, um noch einmal zu überraschen und Begeisterung zu wecken? Gesucht wird eine Elf für das 21. Jahrhundert.
Ich denke hier nicht an die vielen engagierten Haupt- und Ehrenamtlichen, die Zeit und Lebensenergie für die Kirchen aufbringen und so die heimlichen Stars des Spiels sind. Auch geht es nicht darum, ein Team zusammenzustellen, das jetzt irgendwo das Evangelisierungsmatch bestreiten soll. Hier sollen Persönlichkeiten nominiert werden, die mit ihrem Leben, Denken und Handeln den christlichen Glauben attraktiv in das Spiel um die großen Fragen des Lebens einbringen können. Sie mögen evangelisch, katholisch oder orthodox sein, tot oder lebendig, männlich, weiblich oder divers. Sie können Priester, Ordensleute, Missionare oder Laien sein, eher praktisch-handfest oder eher intellektuell-theoretisch veranlagt – es zählt allein die individuelle Klasse. Und die zu bewerten, ist selbst beim Fußball mit den vielen Statistiken und Messungen im Letzten doch eine höchst subjektive Angelegenheit. So möge man auch an dieses kleine Spiel herangehen und sich ganz der unverantwortlichen Freiheit des homo ludens hingeben.
An der Spitze des Sturms
Jetzt aber Anpfiff! Entgegen der üblichen Vorgehensweise beginne ich nicht mit dem Torwart, sondern fange gewissermaßen ganz vorne bei der Sturmspitze an. Dieser vorderste Angreifer soll vor allem Tore erzielen. Dafür wird er zumindest teilweise von Defensivaufgaben entbunden. Seine exponierte Position in der gegnerischen Hälfte verlangt Robustheit, Zweikampf- und Kopfballstärke. Die Sturmspitze soll „das Ding reinmachen“. Im Fußball denkt man dabei an die „Bayern“ Gerd Müller und Robert Lewandowski, an den impulsiven Luis Suárez oder an „il fenomeno“ Ronaldo.
Ich denke an Dorothy Day. Mit unbändiger Kraft und Ausdauer hat sie sich über Jahrzehnte in zahllose politische Auseinandersetzungen begeben und gleichzeitig dem sozialen Elend, mit dem nicht selten Verzweiflung und Orientierungslosigkeit einhergehen, die Stirn geboten. Ihr Platz war immer in der gegnerischen Hälfte, nicht in der vertrauten Binnenwelt ihrer katholischen Kirche, in die sie erst als Dreißigjährige eintrat.
Über den Kampf ins Spiel finden
1897 in New York geboren, fällt Dorothy Day schon früh durch ihren Eigensinn auf. Die Tochter aus eher konservativem Haus will Schriftstellerin werden, bricht ihr Studium ab und lebt im New York der 1920er Jahre als Teil der urbanen Boheme. Sie kämpft mit den Suffragetten für das allgemeine Frauenwahlrecht und schreibt für kommunistische und sozialistische Zeitschriften. Was ihre Freunde und Genossen nicht wissen: Nach mancher durchzechten Nacht in zwielichten Spelunken flieht Dorothy Day in das Dunkel eines Frühgottesdienstes in Manhattan, findet für kurze Zeit Frieden als Zaungast der religiösen Rituale, deren Sinn sie nicht versteht. Ihr Leben bleibt turbulent: Nach einer stürmischen Liebesaffäre lässt sie eine Abtreibung vornehmen, die sie später als „große Tragödie ihres Lebens“ bezeichnen wird. Eine Ehe mit einem deutlich älteren Mann scheitert nach kurzer Zeit.
Doch dann wird Day, die sich nach der Abtreibung für unfruchtbar hält, unerwartet schwanger. Die Beziehung mit dem Vater des Kindes, einem anarchistischen Naturwissenschaftler gestaltet sich schwierig. Er lehnt Ehe, Vaterschaft und Religion ab, sie sehnt sich nach Familie, Beständigkeit und spiritueller Heimat. Gegen den Willen ihres Partners lässt Dorothy Day ihre Tochter Tamar und kurze Zeit später sich selbst katholisch taufen. Weder ihre Familie, noch ihre progressiven Freunde können diesen Schritt nachvollziehen. Die katholische Kirche lehnen sie als reaktionäre Institution ab, der nur irische Polizisten und Waschweiber angehören. Für Dorothy Day ist dies die Kirche der Armen, denen sie sich weiterhin verbunden fühlt.
Zunehmend aber leidet Day an der Tatenlosigkeit der Kirche angesichts des massenhaften sozialen Elends, in das die Weltwirtschaftskrise weite Teile der Bevölkerung gestürzt hat. Wo sind die Bischöfe und Pfarrer, die gegen die Ursachen von Arbeits- und Obdachlosigkeit aufstehen? Und was soll, was kann sie selbst in dieser Situation tun, als alleinerziehende Mutter mit bestenfalls prekären Beschäftigungsverhältnissen, mickrigen Einkünften und einer kleinen Mietwohnung?
Es spielt Not gegen Elend
In dieser Situation begegnet sie dem französischstämmigen Vagabunden und Autodidakten Peter Maurin. Gemeinsam gründen die beiden eine Zeitung, die sie Catholic Worker nennen und am 1. Mai 1933 erstmals den demonstrierenden Arbeitern anbieten. Nun haben sie ein Medium, um für ihre Vorstellungen zu werben, die sich aus der katholischen Soziallehre ebenso speisen wie aus den Werken des anarchistischen Theoretikers Pjotr Kropotkin. Im Umkreis der Zeitung entsteht schon bald eine Bewegung, die ein erstes „Haus der Gastfreundschaft“ in Manhattan eröffnet, wo sie Obdachlose beherbergt und mit Kleidung und Mahlzeiten versorgt. Nur wenige Jahre später kann die Gruppe außerhalb von New York City eine Farm erwerben, um Arbeit außerhalb des kapitalistischen Lohnsystems zu schaffen und die Versorgung zu sichern. In den ersten Jahren wächst die Catholic-Worker-Bewegung rasant. In zahlreichen Städten bilden sich Gruppen, die Häuser der Gastfreundschaft eröffnen und sich um Menschen am Rande der Gesellschaft kümmern. Rastlos reisen Day und Maurin durch die Vereinigten Staaten, um für ihre Arbeit und ihre Ideen zu werben.
Weitermachen, immer weitermachen
Während des Spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs verfolgen Day und der Catholic Worker eine radikal-pazifistische Linie, lehnen jegliche Beteiligung an Kampfhandlungen ab und unterstützen Kriegsdienstverweigerer. Dies bringt ihnen einen massiven Reputationsverlust innerhalb der Kirche und der amerikanischen Gesellschaft ein. Auch mit vielen alten Genossen der politischen Linken, die den Kampf gegen die faschistischen Regime in Europa gutheißen, überwirft sich Day. Allen Widerständen zum Trotz setzt sie ihr Engagement auch nach Maurins Tod im Jahr 1949 fort und bleibt ihren Überzeugungen auch während des kalten Krieges treu: Sie verweigert die Teilnahme an zivilen Verteidigungstrainings und wird deswegen mehrfach inhaftiert. Sie zahlt keine Steuern, weil diese den militärischen Apparat finanzieren. Dem amerikanischen Establishment der Nachkriegsjahre gilt Dorothy Day als gefährliches Subjekt und notorische Quertreiberin. Das FBI führt eine Akte und sieht im Krisenfall ihre Internierung vor.
Mit dem Vietnamkrieg wird Day zu einer zentralen Figur der Protestbewegung. Zugleich erlebt sie, die selbst in einem von ihr gegründeten Haus der Gastfreundschaft wohnt, den Niedergang ihrer Heimatstadt New York. Sie teilt ihr Zuhause mit traumatisierten Veteranen und psychisch instabilen Menschen, mit Drogenabhängigen, Alkoholkranken und Obdachlosen. Ihr ganzes Leben setzt sie ohne Rücksicht auf ihre psychische und physische Gesundheit für die marginalisierten Menschen am Rande der Gesellschaft ein. Immer wieder gerät sie dabei in Konflikt mit den Mächtigen in ihrer Kirche. Den verbreiteten Verdacht, sie sei eine Kommunistin, kontert Day: „Wenn du dich um die Armen kümmerst, nennen sie dich eine Heilige. Wenn du fragst, warum die Armen arm sind, nennen sie dich eine Kommunistin“.
Sie kann rechts wie links
Im November 1980 stirbt Dorothy Day, nachdem sie fast fünf Jahrzehnte für Frieden und soziale Gerechtigkeit gekämpft hat. Für ihren rastlosen Einsatz wird sie bis heute als eine Ikone des sozialen Katholizismus Amerikas verehrt. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus haben ihr Glaubenszeugnis gepriesen, und im Jahr 2000 wurde ein Kanonisierungsverfahren eröffnet. Wie auch immer dieses ausgehen mag: Dorothy Day ist eine Persönlichkeit mit vielen Ecken und Kanten, die nicht dem süßlich-verkitschten Bild einer Heiligen entspricht. Sie passt in keine Schublade. Ihr politisches Engagement wurzelt tief in einem sehr traditionellen Glauben. In der Fußballsprache könnte man sagen: Sie kann links wie rechts.
Gerade ihr komplexes Leben mit seinen Brüchen und Schatten, in dem bis zur Selbstaufgabe reichende Hingabe immer von Zweifeln, Ängsten und Zusammenbrüchen begleitet war, macht Dorothy Day zur ersten Wahl für die Position der Sturmspitze meiner Elf für das 21. Jahrhundert. Wenn wir uns heute eine Kirche wünschen, die aus sich selbst herausgeht und deren Glaube sich im Leben mit und für die Menschen bewährt, hat Dorothy Day den Ball schon längst im langen Eck versenkt.
Damit wäre eine Position besetzt. Wie geht es weiter? Wie sähe Ihre Elf für das 21. Jahrhundert aus? Wen würden Sie nominieren? Schreiben Sie uns Ihre Gedanken!
Bildnachweise:
St Philips Marsh Adult School FC, 1920. Auf Wikimedia commons, gemeinfrei
Die zwölf Apostel. Holzschnitt von Christian Schmid (17. Jhd.). Auf Wikimedia commons, gemeinfrei
Dorothy Day, 1916. Auf Wikimedia commons, gemeinfrei
Dorothy Day, 1973. Bild: Jim Forest auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)
17. Juni 2021 || ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent