Feurig: Emil Noldes Werk „Pfingsten“
Feuerzungen – Gedanken zum Gemälde „Pfingsten“ von Emil Nolde
Emil Nolde gehört zu den wenigen expressionistischen deutschen Künstlern, die sich in ihrer Kunst auch mit biblischen Themen auseinandersetzten und diese in ihren Werken entsprechend zu deuten suchten. Was über Jahrhunderte unbestritten zur Quelle künstlerischer Arbeiten gehörte, die Visualisierung biblischer Geschichten, galt zu Noldes Zeiten als überholt, wenn es sich nicht um Auftragsarbeiten durch die Kirche handelte; vielleicht schwang in jener Zeit bei den Künstlerinnen und Künstlern eine nicht ganz unbegründete Sorge mit, zu sehr auf etablierte und damit starre Bildformulare zu bestimmten biblischen Themen festgelegt zu werden.
Nolde greift in seinem „Pfingstbild“ von 1909, das zu einem Zyklus mit biblischen Themen gehört, im weitesten Sinne auf die in der Apostelgeschichte (2, 1-13) geschilderte Geistsendung zu Pfingsten zurück und bedient sich konventioneller Darstellungsmittel wie den Feuerzungen, um die geschilderte Herabkunft des Heiligen Geistes zu veranschaulichen.
Versammelt um einen in leuchtend gelben Tönen gehaltenen Tisch, vor dunklem Hintergrund, werden die elf Jünger Jesu mit Feuerzungen über ihren Köpfen dargestellt. Es fehlen allerdings Maria und die Frauen, die in der Apostelgeschichte ausdrücklich als mit den Jüngern im Gebet verharrend benannt werden. Für die Wiedergabe der Apostel wählt Nolde eine interessante Darstellungsweise, indem er diese Gruppe von Männern im Modus des Halbfigurenporträts bei wechselnden Gesichtsperspektiven abbildet.
Im Zentrum der Gruppe gesellt er eine Dreiergruppe frontal dargestellter Apostel, die mit weiten Augen und teilweise geöffnetem Mund den Betrachtenden direkt anblicken. Links und rechts von ihnen schließen sich dieser zentralen Gruppe zwei Teilgruppen an. Teilweise sind die Köpfe – wie am rechten Bildrand – im Dreiviertelprofil oder Seitenprofil übereinander angeordnet und verdeckt, teilweise – wie am linken Bildrand – in einer bogenartigen Führung ebenfalls dicht aneinandergerückt und im Dreiviertelprofil oder in Rückenansicht dargestellt. Von links und rechts strecken sich Hände entgegen, die sich berühren, sodass die Gruppe optisch einen geschlossenen Kreis bildet. Dabei erfährt an dieser Stelle das Gemälde durch die gezielt vertikale Komposition der unterschiedlichen Hände einen besonderen Akzent: den einander horizontal berührenden Händen auf dem Tisch ordnen sich im Gebetsgestus die vertikal gefalteten Hände zu und werden durch die darüber abgebildete, auf die Schulter eines Apostels gelegte Hand abgeschlossen. So wird in allen drei Gesten ein Moment der konzentrierten Nähe und der inneren Ausrichtung auf ein Gegenüber erkennbar.
In der Pfingstgeschichte wird uns berichtet, wie die Jünger vom Geist erfüllt beginnen, die Großtaten Gottes, die er durch seinen Sohn Jesus Christus gewirkt hat, zu besingen. Sie sind darin ein Gegenbild zu jener Gruppe, die sich beim Turmbau zu Babel (Gen 11) darum mühen, sich selbst ihrer Taten zu rühmen und sich einen Namen zu machen. Während bei der alttestamentlichen Geschichte die Zerstreuung der Menschen und die Verwirrung aufgrund der vielen Sprachen die Folge ist, stellt das Pfingstereignis den Auftakt der letzten großen Sammlung der Menschen aus den verschiedenen Sprachen und den unterschiedlichsten Kulturkreisen im einen Glauben an Gott durch den Geist in der Gemeinschaft der Kirche dar.
Sehr sublim fasst Nolde diese Komplexität des Ereignisses, indem er dieses gerade über die Darstellung der Hände aufschlüsselt: Als im Glauben geeint, angezeigt durch die gefalteten Hände, wird dieser Kreis der Jünger zur Keimzelle einer weltumspannenden Gemeinschaft, in die durch die bewusste Öffnung des Bildes auf den Betrachtenden hin, dieser selbst eintreten kann. Zu guter Letzt wird durch die auf der Schulter ruhende Hand der Aspekt der gegenseitigen Bestärkung im Glauben und Leben herausgestellt.
Pfingsten als „Geburtstag der Kirche“ ist Gabe und Aufgabe zugleich. Nur in dem Maße wie sich die, die zum Glauben an Jesus hingefunden haben, vom Geist führen lassen, wird es möglich sein, die Großtaten Gottes auch heute noch als das zu verkünden, was sie letztlich sind: GOTT IST DA! Er ist da, wo er erhofft und ersehnt, aber auch, wo er verdrängt und vergessen wird.
Bild: Emil Nolde – Pfingsten (1909), auf flickr.de, gemeinfrei
Pfingstmontag, 1. Juni 2020 || ein Beitrag von Dr. Arno-Lutz Henkel, Theologe und Kunsthistoriker
Er leitet Erkundungen und Ferienakademien.