Ein alternatives Weihnachtsoratorium von Heinrich von Herzogenberg
Luca Giordano, Die Anbetung der Hirten, 1688 (Louvre) – gemeinfrei
Der 1843 in Graz geborene, in Leipzig (als Leiter der Bach-Gesellschaft) und in Berlin wirkende Komponist und Dozent Heinrich von Herzogenberg findet für seine herzkranke Frau Elisabeth in Heiden über dem Bodensee den idealen Höhenkurort für ihre Genesung, dies auf einen Ratschlag seines Kollegen an der Berliner Musik-Hochschule Philipp Spitta hin. Das Paar baut sich am Dorfrand ein Haus und beschließt, die Sommer- und Herbstmonate jeweils hier in der Schweiz zu verbringen. Elisabeth bleibt in engem Kontakt mit Johannes Brahms in Wien, dem langjährigen Freund des Ehepaars.
Hier im Appenzellerland entstehen zwischen 1891 und 1899 – nebst Kammermusik – Herzogenbergs wichtigste sakrale Werke.
Heiden über dem Bodensee (gemeinfrei)
Friedrich Spitta, Theologieprofessor an der Straßburger Universität und Bruder von Philipp Spitta, reist im Sommer 1894 nach Heiden mit dem Plan, Herzogenberg für ein Weihnachtsoratorium zu gewinnen. Konzipiert im Geiste Luthers soll es sich nicht um ein üppig ausgestattetes konzertantes Werk wie bei Bach handeln, sondern um eine musikalische Feier, deren Partitur von Laienmusikern (Chor und Solisten) zu bewältigen ist, mit Einbezug der Gemeinde für die eingestreuten Kirchenlieder. Den instrumentalen Teil möchte Spitta auf die Orgel und ein Harmonium beschränken. Nach einigen Wanderungen rund um Heiden trotzt ihm der Komponist doch noch ein Streichquartett und ein Stück für die Oboe ab.
Herzogenberg stürzt sich in die Arbeit und im September schickt er ein Telegramm nach Straßburg: «Fertig, komme morgen, sorge für einen Chor!»
Die 34 Teile des Werks ranken sich um die Rezitative des Evangelisten und als «konzertant» gelten bloß das Vor- und Nachspiel der Orgel, ein brausendes, fugiertes Tutti-Stück à la Buxtehude mit dem Kopfmotiv des dazugehörenden Chorals Vom Himmel hoch da komm’ ich her:
Im ersten Teil («Verheissung») hören wir die Psalmenworte des Propheten, die vom «grossen Licht über denen die da wohnen im finstern Lande» sprechen, doch den Schwerpunkt setzen die vielen Kirchenlieder und Choräle, die sowohl vom vier- bis achtstimmigen Chor als auch von der Gemeinde, mit Einbezug der männlichen Solisten vorgetragen werden. Das Volk beschließt den Advent-Abschnitt mit dem Choral Ich lag in schweren Banden auf die Melodie Wie soll ich dich empfangen.
Im zweiten Teil (»Verkündigung») folgen wir dem Rezitativ des Evangelisten (nach Lukas), dessen linearer Duktus an die entsprechenden Stellen im Weihnachtsoratorium von Heinrich Schütz von 1664 erinnert. Allerdings erlaubt sich der Komponist bei den Worten des Engels Gabriel einige melismatische Schlaufen auf die Worte «Du Holdselige», «Gebenedeite» und vor allem beim Namen «Maria». Kaum hat Maria ihre Bereitschaft bekundet, da erschallt der jubelnde Lobgesang im tänzerischen Dreiertakt Erklinge, Lied, und werde Schall, ein virtuos fugierter Chorsatz für acht Stimmen, dessen Kernmotiv in allen Strophen auftaucht, sowohl im Dialog mit den Solisten als auch wie hier als homophoner Abschnitt in der 3. Strophe («Des soll’n wir alle fröhlich sein…»):
Zur Geburt Christi erklingt Es ist ein Ros’ entsprungen in einer feierlichen, von der Orgel umspielten und polyphon gesetzten Gestalt, und – wo es um die überraschten Hirten auf dem Felde geht – verleiht Herzogenberg der Oboe Flügel. Mit ihrer charmanten Sicilienne leitet sie über zum Kinderchor Kommt und lasst uns Christum ehren, um danach das beliebte Kommet ihr Hirten im Dialog zu begleiten. Heinrich Schütz hat die Hirten mit einem fugierten dreistimmigen Chorsatz im Alt eilends auf den Weg nach Bethlehem geschickt, was Herzogenberg ebenfalls zu einer Fuge inspiriert:
Schütz scheint die Eile zu unterstreichen, mit der die Hirten aufbrechen…
…und Herzogenberg schickt sie über eine fröhliche C-Dur Fuge auf den Weg
Spitta wollte auch dem einzelnen Hirten eine Stimme geben, was der Komponist über das Lied Als ich bei meinen Schafen wacht von 1600 in dialogischer Form zwischen der Solo-Oboe und dem Solistenquartett in Bach’scher Manier aber mit Schubert’scher Harmonik durchgestaltet.
Der allgemeine Jubel über das frohe Ereignis kulminiert im Choral Gelobet sei der Herr als großer homophoner Chorsatz und kurz danach im Doppelchor Also hat Gott die Welt geliebt, nach Johannes III-16, ein 8-stimmiges Gebäude mit beigestelltem Kinderchor auf der Empore, wobei ein Halleluja aller Beteiligten den Kirchenraum durchflutet.
Zum Abschluss singen Chor, Solisten und das Kirchenvolk gemeinsam den Choral Sei willkomm, du edler Gast auf die berühmte Melodie Vom Himmel hoch da komm ich her, bevor die Orgel mit ihrem, dem Vorspiel identischen Nachspiel den festlichen Schlusspunkt setzt:
Herzogenberg leitet selber die Uraufführung des Oratoriums in der Thomaskirche von Straßburg, mit Spitta in der Rolle des Evangelisten. Aus Berlin schreibt er im Januar 1895 an Spitta von seinem unermesslichen Glück über das großartige Klangerlebnis seines Oratoriums.
Herzogenbergs letzte Jahre sind von unerträglichen Gicht-Schmerzen begleitet. Doch seinen Humor verliert er nicht, was u.a. in einem Brief von der italienischen Riviera durchscheint, wo er im Winter 1900 im Rollstuhl die wärmende Sonne sucht, jedoch miserables Wetter antrifft. Der Tod seines Freundes Brahms und des Kollegen Bargiel in Berlin (Clara Schumann’s Stiefbruder) kurz vor 1900 haben ihm zugesetzt. Er stirbt am 9. Oktober 1900 in seinem letzten Domizil in Wiesbaden. Spitta aus Straßburg hält in einer feierlichen Zeremonie im Nordfriedhof die Grabrede.
Q U E L L E N :
Bernd Wiechert, Heinrich von Herzogenberg (1843-1900): Studien zu Leben und Werk, Göttingen 1997
Konrad-Jürgen Kleinicke, Das kirchenmusikalische Schaffen von Heinrich von Herzogenberg, Fachartikel im Angebot der Internetseite «Herzogenberg und Heiden»
Konrad Klek, Die Entstehung des Weihnachtsoratoriums «Die Geburt Christi» in Heiden, ebenda
Heinrich Schütz, Historie der Geburt Christi (1600) – Partitur
A U F N A H M E N (Youtube)
Cantorei der Reformationskirche Berlin-Moabit, Dir. Caspar Wein (Film)
Evangelische Kirchengemeinde Frohnau, Dir. Johannes Dasch (Film)
Div. Auszüge auf youtube
Oekumenischer Hochschulchor Würzburg, Herzogenberg-Orchester Würzburg, Dir. Matthias Beckert (audio) – CD cpo 2006 (Live-Aufnahme von 2005)
18. Dezember 2024 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.
Seit 2021 verfasst Josef Zemp Artikel für den Blog der Akademie. In diesem Zeitraum ist eine vielfältige Sammlung von Beiträgen entstanden, die Sie hier nachlesen können.