In den Blick nehmen

Erkundung des Weges zum Pfirsichblütenquell

Zwei, drei, manchmal sogar mehr Videokonferenzen täglich prägen momentan meine Arbeit. Und danach? Ich sitze, wie viele andere, zu Hause und betrachte die Welt auf Bildschirmen. Ich schaue Dokumentationen im Fernsehen, treffe Freund*innen auf Skype, bilde mich weiter in Online-Seminaren. Ich freue mich über die für mich neuen Möglichkeiten und versuche, die Zeit gut zu nutzen. Ich möchte alles durchdringen, Erklärungen finden für das, was gerade passiert – mein Verstand steht nicht still.
Doch wenn ich vor die Tür gehe, springen meine Sinne an. Von ganz alleine und ohne Absicht: Ich rieche, ich beobachte, ich höre. Ich genieße die Mehrdimensionalität und lasse mich treiben.
Genau das verbinde ich mit dem Bild, das ich ausgewählt habe: Erkundungen des Weges zum Pfirsichblütenquell, entstanden Mitte des 16. Jahrhunderts. Was für eine sinnliche Erfahrung es sein muss, sich mit dem Protagonisten, einem Fischer, auf die Suche nach dem Pfirsichblütenquell zu machen, hinter dem sich eine ideale Welt voller Frieden und Glück verbirgt. Die Sage stammt aus dem 4. oder 5. Jahrhundert, ihr Verfasser, ein wahrer Meister chinesischer Prosa, Tao Yuanming, stellte darin den Wirren seiner Zeit diese paradiesische Vorstellung gegenüber.
Das Landschaftspanorama ist fast 5,80 Meter lang, eine wohldurchdachte Komposition von Wen Zhengming, schwer, sie auf einen Blick zu erfassen – oder gar abzubilden. Ein Bach mäandert durch die gebirgige und waldreiche Landschaft, Menschen bewohnen und bewirtschaften das Tal. Der Fischer hat sein Boot am Ufer angebunden und wird im nächsten Moment die Höhle zur Innenwelt betreten. Im Detail lassen sich die Blüten und Blätter an den Bäumen besonders schön sehen. Können Sie sie riechen?
Neben seiner Symbolik und der unglaublichen Kunstfertigkeit habe ich einen ganz persönlichen Zugang zu dem Bild: Zwar habe ich Kunstgeschichte studiert, die asiatische ist mir jedoch wenig vertraut. Sie folgt ganz eigenen Regeln. Schon immer bin ich deshalb besonders gerne ins Museum für Ostasiatische Kunst Köln gegangen, um erst einmal nur zu schauen, die Dinge auf mich wirken zu lassen, ganz ohne Absicht. Dafür musste ich mein bisher Gelerntes loslassen.
Und gerade das Loslassen vom Gewohnten ist für mich ein wichtiger Teil der Fastenzeit, um sich auf das zu besinnen, was das Leben ausmacht, für die persönliche Welt voller Frieden und Glück. Vor diesem Hintergrund wirkt das Bild beinahe wie eine Anleitung.

In der neuen Reihe haben wir ausgewählte Personen gebeten, ihr persönliches Lieblingsbild (Gemälde, Foto, Zeichnung, Druck) „in den Blick zu nehmen“ und dazu etwas zu schreiben. An jedem Fastensonntag erscheint nun ein ganz persönlicher Beitrag zu einem Bild.

Wie kam es zu dieser Idee? Ein Kunstwerk zu betrachten, sich damit auseinander zu setzen, hineingezogen zu werden, das kann glücklich machen, davon sind wir, das Redaktionsteam des Blogs „Akademie in den Häusern“, überzeugt. Aber auch die Perspektive zu wechseln und den Horizont zu erweitern, bringt uns dem Glück und der Zufriedenheit ein entscheidendes Stückchen näher. Die unterschiedlichen Bilder, die in dieser kleinen Reihe gezeigt werden, laden uns ein, genauer hinzusehen und wahrzunehmen, was ist. Auf diesen Perspektivenwechsel in der Fastenzeit freuen wir uns! Lassen Sie sich, genau wie wir, mit allen Sinnen ansprechen.

Wen Zhengming, Erkundungen des Weges zur Pfirsichblütenquell, datiert 1554, Detail, Repro aus: Im Schatten hoher Bäume, Malerei der Ming- und Qing-Dynastien (1368–1911) aus der Volkrepublik China, Katalog zur Ausstellung Museum für Ostasiatische Kunst Köln 23. März–19. Mai 1985

7. März 2021 || ein Beitrag von Dr. Lena Weber, Kunsthistorikerin und Mitarbeiterin des Museumsdienstes Köln, arbeitete viele Jahre als Reiseleiterin für die Thomas-Morus-Akademie Bensberg