Körper, Durst und Liebe

Die Passion – eine persönliche Angelegenheit

Mit diesem Jesus könnte man befreundet sein. So nah scheint er uns zu kommen, so menschlich spricht er über sich, seine Gedanken und Gefühle. Fast meint man, einem Menschen unserer Zeit zuzuhören. Aber es spricht tatsächlich Jesus, der Sohn Gottes.

Die exzentrische Autorin Amélie Nothomb, bekannt für ihre riesigen Hüte, hat es gewagt, die Leidensgeschichte Jesu aus der Perspektive des Gekreuzigten und in der ersten Person Singular zu beschreiben. Der schmale Band mit dem Titel „Soif“ („Durst“) erschien 2019 in der Éditions Albin Michel und liegt seit Oktober 2020 in deutscher Übersetzung von Brigitte Große vor.

Aus „Durst“ wird „Passion“

Dabei hat sich der Schweizer Diogenes-Verlag aus unerfindlichen Gründen für den Titel „Die Passion“ entschieden. Das ist ein wenig schade, weil Nothomb die Menschlichkeit des Gottessohnes gerade am Durst verdeutlicht. Jesus hat Durst, am Kreuz wird er stöhnen: „Mich dürstet“ (Joh 19,28). Zugleich ist es für Jesus der Durst, der die Tür zur mystischen Erfahrung öffnet: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr empfindet, wenn ihr dürstet, das sollt ihr hegen und pflegen. Es ist der Quell der Mystik“ (S. 41). Später wird er sogar – was in Nothombs Buch keine Seltenheit ist – den Evangelisten Johannes korrigieren. Nie habe er, Jesus, gesagt, wer von seinem Wasser trinke, werde niemals mehr Durst haben. Das sei Unsinn. „Die Liebe Gottes ist das Wasser, das den Durst niemals löscht. Je mehr man trinkt, desto durstiger wird man. Endlich eine Lust, die das Begehren nicht mindert“ (S. 94).

Sätze wie diese machen deutlich, dass sich Nothomb die Passionsgeschichte keineswegs vornimmt, um nur eine effekthascherische Story zu erzählen. Sie stellt die großen Fragen, aber auf eine wunderbar beiläufige Weise: Hatte Jesus eine Wahl? Hätte er vor dem Leiden fliehen können? Was wollte Gott mit dem Leiden seines Sohnes erreichen?

In der Nacht vor der Kreuzigung sinnt Jesus über diese Fragen nach. „Ich wusste seit jeher, dass man mich zum Tode verurteilen würde“ sagt er gleich im ersten Satz des Romans. Es folgen durchaus amüsante Schilderungen des Prozesses, der im Urteil des Pilatus gipfelt. Als Belastungszeugen treten Personen auf, denen Jesus Gutes getan hat, die nun aber mit den Wundern hadern: Die Brautleute von Kana wurden verspottet, weil sie den guten Wein erst am Ende der Feier ausschenkten. Der ehemalige Blinde, den Jesus durch ein Wunder sehend machte, beklagt die Hässlichkeit der Welt. Ein geheilter Aussätziger jammert über ausbleibende Almosen. Jesus schildert diese Anklagen gleichermaßen traurig und belustigt. Sein Ton ist lakonisch, aber nicht herablassend.

Fast stoisch fügt sich Jesus in sein Schicksal, nimmt dieses an und behält bei allen Qualen doch diesen ganz eigentümlichen Ton bei: „Ich schätze die Strecke bis Golgatha. Ausgeschlossen. Bevor ich dort ankomme, sterbe ich. Und das ist fast eine gute Nachricht, denn dann werde ich nicht gekreuzigt.“

Leidenschaftlich wird er, wenn er an seine Freundin Maria Magdalena denkt oder mit seinem göttlichen Vater rechtet: Die Kreuzigung sei ein Fehler gewesen. Die eigene Erfindung sei dem Vater schlicht über den Kopf gewachsen. Und Jesus hält fest: „Der große Unterschied zwischen meinem Vater und mir ist, dass er Liebe ist und ich liebe“ (S. 117). Und um dies zu können, brauche man einen Körper.

Die Bedeutung des Körpers

Wenn Nothombs Jesus die Überzeugung äußert, „der bestverkörperte Mensch zu sein“, fühlt man sich an Joseph Ratzinger erinnert, dem Jesus von Nazareth „als der exemplarische, als der maßgebende Mensch“ gilt, weil er der „ganz über sich hinausgekommene und so der wahrhaft zu sich gekommene Mensch“ sei (S. 220-221). Bei Nothomb scheint es eher umgekehrt: Ihr Jesus ist ganz bei sich, ganz körperlich präsent. Diese perfekte Präsenz befähigt ihn zu großer Liebe, zu Wundertaten und letztlich auch zur Auferstehung.

So könnte man sagen, dass Nothomb den vom Theologen Ratzinger skizzierten Gegensatz zwischen der Theologie der Inkarnation und der Theologie des Kreuzes auf ihre eigene, erzählerische Weise versöhnt. Ihr Jesus ist ganz Mensch, ganz Körper und kann so neben Liebe und Durst die Qualen der Kreuzigung empfinden. Und erst seine Körperlichkeit befähigt ihn zum Tun, erlaubt ihm zu lieben, zu heilen, zu leiden und zu sterben. Aber die Intensität, mit der er dies alles bei Nothomb tut, macht wiederum Ratzingers Satz begreiflich: „Dies Tun ist nicht bloß Tun, sondern Sein, es reicht in die tiefe [sic!] des Seins hinab und fällt mit ihm zusammen.“ (S. 216).

Dies macht Nothombs schmalen Roman zu einer lohnenden Lektüre für stille Kar- und Ostertage. Nicht alle Gedanken der Autorin mögen einen überzeugen. Aber wer die Passionsgeschichte nicht per se als Stoff für künstlerische Bearbeitung ausschließt, findet bei Nothomb eine charmante Einladung, über die großen Fragen des Ostermysteriums nachzudenken. Und einen Jesus, mit dem man befreundet sein könnte.

„Die Passion“ von Amélie Nothomb, übersetzt von Brigitte Große, 128 S., Diogenes, 2020.
Joseph Ratzinger (2005): Einführung in das Christentum. Kösel.

Bildnachweise
Albrecht Dürer: Schmerzensmann. 1493. Bild: wikimedia, gemeinfrei.
Amélie Nothomb auf der Place de Nancy, 2015. Bild: ActuaLitté auf wikimedia (CC BY-SA 2.0)
J
oseph Ratzinger, als junger Professor an der Universität Regensburg, 14.9.1965. Bild: Levan Ramishvili auf Flickr, public domain Mark 1.0

2. April 2021 || von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert