Leben im Heute: Interview mit Pierre Stutz

Manchmal sind es Sätze, Bilder, Kompositionen, Zitate oder Gedichte, die „zufällig“ ins Auge springen, die Seele berühren – und vielleicht zu „Haltepunkten“ in diesen  verunsichernden Zeiten werden. Welche „Haltepunkte“ mögen es wohl für den spirituellen Bestseller-Autor Pierre Stutz sein, fragte sich Akademiereferentin Elisabeth Bremekamp. Was gibt ihm in dieser verordneten Zeit des Innehaltens Kraft und Perspektive? Lesen Sie hier seine Antworten.

Pierre Stutz 

Als Theologe, spiritueller Begleiter und Autor zahlreicher sehr erfolgreicher Bücher engagiert sich Pierre Stutz für eine engagierte Spiritualität. „Schreiben ist für mich ein ‚feu sacré‘, ein inneres Feuer. Meine Inspiration ziehe ich aus meinem persönlichen Hoffen und Ringen in der Gottessuche. Kraft bei dieser Suche geben mir poetische, mystische und biblische Texte, inspirierende Kinofilmmomente – und auch die Überzeugung, dass Spiritualität dazu da ist, zu befreien und nicht einzuengen. Erst wenn die spirituelle Dimension des Alltags erkannt ist, dann wird mein Leben kostbar.“

17. Mai 2020 || Das Interview mit Pierre Stutz führte Elisabeth Bremekamp, Referatsleiterin Ferienakademien.

Heute

Heute innehalten
Staunend den Blick
zum Himmel erheben
der uns erinnert
in der Segensart der Schöpfung
verwurzelt zu sein

Heute klarer sehen
im Schließen der Augen
ganz Mensch sein:
das Gold in sich entdecken
den dunklen Seiten nicht ausweichen
kraftvoll-zerbrechlich sein dürfen

Heute dankbar
tief ein- und ausatmen
zwischen Erde und Himmel
das Geschenk des Lebens feiern
in Verbindung mit allen
die Frieden und Gerechtigkeit fördern.

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veröffentlicht in:
Schöpfungshaus. Meditationen zum Hungertuch 2019. Luzern/Bern 2020.

Sie haben für unseren Blog Ihr Gedicht „Heute“ und dazu das Werk von Uwe Appold ausgewählt.
Wie korrespondieren für Sie die Textzeilen und dieses Werk, das ja das Misereor Hungertuch 2019/2020 ist?
Das Bild mit seinem goldenen Lebenskreis, dem offenen Haus und der blutenden Erde zeigt mir auf, dass ein Innehalten mich in eine tiefere Verbundenheit mit allem führt: Eintauchen in das Geschenk der göttlichen Segenskraft heißt, auftauchen in eine schöne und auch sehr zerbrechliche Welt.

Das Gedicht „Heute“ haben Sie vor Beginn der „Corona-Zeit“ geschrieben. Haben die Zeilen nun für Sie eine neue Schwingung, eine neue vielleicht ganz andere Bedeutung erhalten?
In Zeiten der Verunsicherung sind wir erst recht herausgefordert, auch gut für uns selbst zu sorgen. Je mehr wir gefordert sind im Leben, desto mehr wünsche ich uns die Gabe des Innehaltens, damit wir in Besonnenheit und Entschiedenheit handeln können.

Uwe Apold fokussiert sein Werk auf ein „goldenes Haus“ in einem – so scheint es – Heiligenschein auf blauem Grund. Was symbolisiert für Sie dieses „goldene Haus“?
Das „goldene Haus“ erzählt von unserer einmaligen Würde, von der Zusage, gesegnet zu sein vor allem Tun und es erinnert uns auch an die unaufhaltsame Hoffnung, dass wir verwundet aufgehoben sind … Wenn wir uns wie der Friedensmann aus Nazareth dem Leben liebend in die Arme werfen, dann werden wir jeden Tag neu staunen und danken können und zugleich dank unserer Zerbrechlichkeit auch mitfühlend sein können.

„Heute“ in einer veränderten Gegenwart: Wie leben, wie er-leben Sie in diesen besonderen Zeiten Ihren Alltag? Was sehen Sie als Gewinn, was vielleicht auch als Grenz-Erfahrung? Was macht Ihnen vielleicht gar Angst? Was gibt Ihnen Halt, was Trost?
Die Stille, die Lange-Weile, die Langsamkeit empfinde ich als wohltuend – seit Jahren schreibe ich in meinen Büchern, dass wir einen gesunden Lebens- und Arbeitsrhythmus brauchen, um nicht im Diktat der Schnelligkeit unsere kostbare Lebensqualität zu verlieren. Zugleich spüre ich wie die Angst die Regie in meinem Leben übernehmen will. Die Angst um die Gesundheit meiner Liebsten, die Arbeitsplätze … Halt gibt mir, wenn ich die Angst nicht bekämpfe, sondern mit ihr in einen Dialog trete, damit ich ihr auch klare Grenzen setzen kann. Trost schenkt mir die Erinnerung, dass ich immer mehr als Angst und Verzweiflung bin, weil in mir ein göttlicher Ruheort ist, in dem ich Hoffnung schöpfen kann.

Welche aktuellen gesellschaftlich-politischen Entwicklungen lassen Sie aufhorchen? Wozu möchten Sie als engagierter spiritueller Lehrer laut und vernehmlich Ihre Stimme erheben?
Ich ermutige uns, diese Krise als Chance zu einem Bewusstseinswandel zu entdecken. Klimagerechtigkeit und das Fördern der Menschenrechte bleiben zentrale Überlebensthemen. In der Corona-Krise ist sehr viel Solidarität gewachsen, die wir nun weiter mit kämpferischer Gelassenheit hegen und pflegen dürfen.

Sie sind begeisterter und begeisternder Cineast. Gibt es einen Film, eine Filmsequenz, die Ihnen in diesen Tagen besonders lebendig in Erinnerung ist? Und: Welchen Film möchten Sie unbedingt nochmals anschauen und warum?
Die Filmsequenz aus dem „Club der toten Dichter“, in der Robin Williams als Lehrer Keating die Studenten auffordert, auf das Pult zu steigen, schaue ich mir als Hoffnungsbild immer wieder an: Das Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten, ist für mich eine gute Umschreibung einer spirituellen Blickrichtung (Filmsequenz: www.pierrestutz.ch/Filmmomente). Den Film „Hannah Arendt“ von Margarethe von Trotta schaue ich mir gerne wieder an: „Denken ohne Geländer“ ist gerade jetzt wichtig, weil ein „Volk ohne Vision“ keine Zukunft hat … wie es bereits im biblischen Buch der Sprüche heißt (Spr 29,18).

In diesen Zeiten bleibt ja viel Raum, zu lesen. Welches Buch/welche Bücher haben Sie zuletzt fasziniert?
„Das Stundenbuch“, das Rainer Maria Rilke mit 24 Jahren geschrieben hat, begleitet mich die letzten Wochen als Kraftquelle.

Zurück zum „Heute“: Wie würden Sie den Satz „Wer sich aufs Heute konzentriert …“ beenden?
.., der vertagt die Verabredung mit dem Leben nicht auf später, weil „jetzt der wichtigste Moment in deinem Leben ist“. (Meister Eckhart).

Und was entgegnen Sie jenen, die sagen: „Wer sich aufs Heute konzentriert scheitert am Morgen“?
Leben im Augenblick ist die beste Vorbereitung auf die Zukunft.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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Weiterführende Literatur von  Pierre Stutz

  • Atempausen für die Seele. Neuausgabe Verlag Herder 2020.
  • Geborgen und frei. Mystik als Lebensstil. Überarbeitete Neuausgabe Kösel Verlag München 2018.
  • Lass dich nicht im Stich. Die spirituelle Botschaft von Ärger, Zorn und Wut. Patmos-Verlag. 2. Auflage 2017.

Fotonachweis

Das MISEREOR-Hungertuch 2019/2020 „Mensch, wo bist du?“ von Uwe Appold © MISEREOR