Eine Buchempfehlung von Christian Linker

Buchempfehlung von Christian Linker

 

Die Chamäleondamen
Yvonne Hergane
2020, MaroVerlag

„Wilder Tanz durch die Jahrzehnte“
Christian Linker

In der Hochzeitsnacht flieht Edith aus dem Fenster und zu ihrem Geliebten. Da schreiben wir gerade das Jahr 1919, und der krassere Teil des Jahrhunderts kommt erst noch. Edith ist die erste von vier Frauen einer Ahnenreihe, die Yvonne Herganes Debütroman „Die Chamäleondamen“ quer durch die Jahrzehnte und den Kontinent zieht. Tochter Marita, Enkelin Ellie und deren Tochter Hanne machen ihre eigenen Erfahrungen mit dem Abhauen und Vielleicht-Ankommen zwischen Krieg und Diktatur, Kinderheim und Badesee, zwischen dem rumänischen Banat und dem Sehnsuchtsort Bundesrepublik.

Mehr als hundert Jahre Handlung hat die Autorin auf 240 Seiten prallen Lebens verdichtet, als sei das keine ausgedachte Geschichte, sondern wirkliches Erinnern. Schließlich folgt das menschliche Gedächtnis ja keiner Plot-Struktur mit chronologischem Erzählfaden. Im Gegenteil sind Vergangenheitsbilder ausschnitthaft, unsortiert, assoziativ. Genauso verhalten sich die „Chamäleondamen“: Die eigensinnige Edith, die schöne Marita, die angepasste Ellie, die suchende Hanne springen mit uns kreuz und quer durch die Jahrzehnte in atemberaubend kurzen Kapiteln. Schnell und easy konsumieren lässt sich das Feuerwerk aus Sprachwitz und Abgründen allerdings nicht, jedenfalls nicht ohne die Zwischentöne zu überhören, die beim Lesen leise nachklingen.

Dort, wo der Roman beginnt, im rumänischen Reschitza, ist auch die Autorin geboren. Wie ihre vier Heldinnen wandert Yvonne Hergane zwischen den Welten. Mit 14 Jahren kam sie nach Deutschland und machte auf dem Buchmarkt bislang als Kinderbuchautorin und Übersetzerin von sich reden. Dass sie aber auf Genre-Grenzen keine Energie verschwendet, erkennen wir nicht nur in der Struktur, sondern auch an der Sprache ihres Romans, einem, Zitat: „Banater Berglanddeutschenpansch mit österreichischem Mehlspeisboden und rumänischen Kirschen obendrauf“. Da einzutauchen macht nachdenklich, übermütig, traurig und glücklich – und außerdem absolut Appetit auf mehr.

Anlässlich der Frankfurter Buchmesse (20. bis 24. Oktober 2021) haben wir uns im Redaktionsteam über die Bücher ausgetauscht, die wir gerade lesen und/oder empfehlen können. Für uns ist Lesen eine der schönsten Beschäftigungen, auch – oder vor allem gerade – im digitalen Zeitalter. Die Lektüre eines Romans am Feierabend wirkt entschleunigend und entspannend.
Außerdem geben uns die Geschichten Einblick in das Leben anderer. Wir schauen über unseren Tellerrand, die Menschen fremder Länder, anderer sozialer Schichten oder divergierender Einstellungen kommen uns näher. Das entfaltet unser Verständnis füreinander.

Daraus ist die Idee entstanden, Personen, die mit der Akademie verbunden sind, nach einer Buchempfehlung für unseren Blog „Akademie in den Häusern“ zu fragen. Zusammengekommen sind 14 besondere Beiträge: Romane, Biografien und Kochbücher, Klassiker und neu erschienene Werke, die wir Ihnen in den nächsten zwei Wochen in unserem Blog vorstellen.

Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre.

Haben Sie ein Buch, das Sie gerne in unserem Blog empfehlen möchten? Schreiben Sie uns an:

12. Oktober 2021 || eine Buchempfehlung von Christian Linker, freier Autor

Christian Linker-freier Autor

Christian Linker war Mitarbeiter der Thomas-Morus-Akademie Bensberg.