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Neurodidaktik: Ach, wäre es doch wenigstens wie in der Medizin…

Welches Denken leitet unser Handeln und Entscheiden – Prof. Dr. Martin Korte nähert sich dieser Frage als Neurobiologe. In seinem Blogbeitrag stellt er die Diskussion vor, ob und wenn ja wie heute neurowissenschaftliches Wissen didaktische und pädagogische Methoden beeinflussen kann. Damit führt er direkt in eine interessante Debatte der Veranstaltung „Das Zeitalter der Naturwissenschaften“ vom 2. bis 3. Juli 2022 (Sa.-So.) ein.

In vielen Aufsätzen und Feuilletonbeiträgen äußern sich Neurowissenschaftler zu pädagogischen und didaktischen Lern- und Lehrthemen der Schule. Besonders prominent und provokant ist hier Prof. Dr. Manfred Spitzer, Universität Ulm, der immer wieder gefordert hat, dass die klassische Pädagogik sich nur noch auf naturwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse stützen sollte, wir quasi eine „Neurodidaktik“ brauchen. Einer seiner bekanntesten Aufsätze hatte sogar den Titel „Medizin für die Schule – Plädoyer für eine evidenzbasierte Pädagogik“.

Nun, eigentlich scheint der Titel von Manfred Spitzer den wissenschaftlichen Begriffsgebrauch von Evidenz zu suggerieren. Er vertritt die These, dass didaktische und pädagogische Methoden und Verfahren neurowissenschaftlich untersucht und begründet werden müssten. Beim Nachdenken über diese „evidenzbasierte Pädagogik“ beschleicht einen aber das Gefühl, dass irgendwie und irgendwo naturwissenschaftlich untersucht, bereits ausreicht Evidenz zu erzeugen, egal wo und wie oder bei wem mit welcher Methodik etwas untersucht wurde. Somit ist am Ende des Artikels nicht mehr so klar, ob nicht vielleicht der umgangssprachliche Gebrauch des Begriffes Evidenz gemeint ist.

Evidenz (lat. evidentia=Augenscheinlichkeit) bedeutet umgangssprachlich: Augenschein, Offenkundigkeit, völlige Klarheit. „Das ist doch evident“ bedeutet somit, dass etwas nicht weiter hinterfragt werden muss. Im Kontext der Evidenzbasierten Medizin (EbM) hat der Begriff Evidenz eine andere Bedeutung. Hier leitet er sich vom englischen Wort „evidence“ = Nachweis, Beweis ab und bezieht sich auf die Informationen aus klinischen Studien, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen.

Entsprechend lohnt es sich der Frage nachzugehen, woher die Evidenz eigentlich kommt und den Neurowissenschaften mal auf die Finger zu schauen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommt, so wie Manfred Spitzer sie beschreibt. Hierbei mag es als unfair empfunden werden, dass diese Analyse von einem Neurobiologen selbst durchgeführt wird, aber um mit Jimmy Carter nach seiner Abwahl als US-Präsident zu sprechen „Whoever said that life is fair?“.

Die Evidenz, die Hirnforschung im Hinblick auf Lern- und Gedächtnisvorgänge aufgetürmt hat, stammt zunächst einmal vor allem aus tierexperimentellen Untersuchungen bei Fruchtfliegen, Schnecken und Mäusen. Dagegen spricht auch nichts (schreibt in jedem Fall der hier schreibende Biologe), aber ein medizinisches Präparat, was „nur“ an Tieren getestet wurde, würde der Arzt Manfred Spitzer niemals in seiner psychiatrischen Abteilung einsetzen oder zulassen. Für Schüler und die Didaktik, die sie erdulden sollen, soll diese Evidenz aber ausreichen! So muss man festhalten, dass man beim Menschen fast nichts weiß über die zellulären Grundlagen von Lernvorgängen, da diese beim Menschen nur sehr schwer zu untersuchen sind. So gibt es bisher nur unzureichende theoretische Modelle, ganz abgesehen von experimentellen Befunden, wie Gedächtnisinhalte (Erinnerungen) beim Menschen gespeichert oder abgerufen werden könnten. Entsprechend ist es schwierig, hier stichhaltige Schlussfolgerungen für das Lernen beim Menschen zu machen. Evidenz in der Medizin ist dann gegeben, wenn durch Grundlagenforschung und durch klinische Forschung, aufgrund von tierexperimentellen Untersuchungen und durch Untersuchungen an Menschen Schlussfolgerungen für den Menschen getroffen werden können. Damit aber nicht genug, klinische Anwendung finden Produkte dann, wenn sie die klinischen Phasen 1, 2, und 3 unter sehr strengen Sicherheits- und Kontrollauflagen der Gesundheitsbehörden durchlaufen haben. All dies gibt es natürlich im Hinblick auf Schüler/innen nicht – und hat es bisher auch nicht gegeben. Man kann also berechtigt einwenden, dass ein Versuch bei einer Fruchtfliege immer noch besser ist, als ein evidenzloser Drahtseilakt eines experimentfreien Theoretikers, der sich Didaktiker nennen darf. Aber ein Übel mit einem anderen bekämpfen erschiene mir ein medizinischer Rückschritt und dem Wert der Ausbildung eines Kindes in der Schule nicht angemessen.


Thesen, Argumente und andere halbgare Gerichte

Schauen wir uns im Folgenden einige Thesen von Manfred Spitzer genauer an:

  • Nervenzellen im Hippocampus (einer Struktur, von der man weiß, dass sie für autobiografische Erinnerungen und das Faktengedächtnis wichtig ist) lernen wichtige und neue Einzelheiten schnell
  • der Cortex (im Unterschied zum Hippocampus) ist eine Regelextraktionsmaschine; hier sollen sich die Synapsen beim Lernen nur ein klein wenig verändern
  • der Cortex hat die Eigenschaft, regelhafte Erfahrungen landkartenförmig zu organisieren
  • positive und angstbesetzte Gedächtnisinhalte werden im Gehirn an anderen Orten abgelegt

Betrachtet man diese generellen Thesen im Lichte aktueller Forschungsergebnisse, so muss man aber folgende Einschränkungen machen:

  • Die genaue Funktion und Arbeitsweise des Hippocampus sind umstritten. Er funktioniert im Konzert von Temporal- und Frontallappen (Strukturen der Großhirnrinde). Es gibt sogar ein eigenes Magazin, mit dem Titel „Hippocampus“, in dem nur Artikel zum Thema des Aufgabengebietes und der Funktionsweise des Hippocampus publiziert werden und die Anzahl der eingesendeten Artikel immer ehr zu als abnehmen, was darauf schließen lässt, dass alle wichtigen Fragen noch nicht beantwortet sind (allerdings auch darauf, dass man in der Tat Ergebnisse über diese Hirnstruktur sammelt).
  • Wie sich die Synapsen im Cortex bei Einspeichern und Abruf von Informationen verhalten, weiß niemand, dass der Cortex jedoch eine Regelextraktionsmaschine ist, ist sicher richtig, aber es ist sicher auch nicht die einzige Struktur im Gehirn, die hier tätig ist.
  • Landkarten gibt es nur in den ersten, „primitiven“ Verschaltungsstrukturen der Großhirnrinde, in den so wichtigen Arealen des Assoziationscortex gibt es in jedem Fall keine Karten, die man bisher verstanden hat. Auch im Hippocampus ist die Anordnung der Zellen in einer irgendwie gearteten Karte nicht bekannt.
  • Wie Gedächtnisinhalte gespeichert werden, ist ganz und gar nicht klar, vielleicht ist der Abruf bei angstbesetzten oder positiven Erinnerungen ein anderer und nicht die deren Einspeicherung, wie Spitzer vermutet.

Neben diesen wissenschaftlichen Klarstellungen muss man auch ganz grundsätzlich fragen dürfen, was in Texten von Hirnforschern bereits vorausgesetzt wird:

  • Kann die Hirnforschung didaktische/pädagogische Forschung anregen?
  • Bringt die Hirnforschung neue didaktische Konzepte hervor? Könnte Sie dies überhaupt leisten?
  • Lassen sich die Erkenntnisse aus der Hirnforschung in der konkreten didaktischen und pädagogischen Praxis anwenden?
  • Wie müssen Lehrpläne und Lernkonzepte in Zukunft aussehen? Kann die Hirnforschung hier neue Hilfestellungen geben?
  • Auf welche Theorien und Erkenntnisse haben Pädagogen und Didaktiker bisher zurückgegriffen? Lassen sich diese Konzepte mit den Ergebnissen der Hirnforschung vereinbaren?

All das wird in jedem Fall meist nicht von den Neurobiologen und Neurologen angesprochen. Eine Beantwortung dieser Fragen erschien mir aber als Voraussetzung für eine vernünftige Einbringung der Neurowissenschaften in die Didaktik. Die Propädeutik müsste geklärt sein, bevor axiomatisch und fast dogmatisch argumentiert wird.


Sicher ist nur die Bratpfanne

Aber natürlich es gibt auch schon heute Erkenntnisse, die man direkt aus der Hirnforschung auf die Didaktik an Schulen anwenden kann. So kann man sicher aus der Hirnforschung folgern, dass man Kindern nicht mit der Bratpfanne auf den Kopf hauen sollte.

Einigermaßen abgesichert kann man behaupten:

  • Kinder werden in ihrem Lernverhalten von mehr impliziten, also unbewussten, Lernsituationen beeinflusst, als bisher klar war.
  • Belohnungen sind weit komplizierter als dies bisher angenommen wurde und nichts ist stärker als die intrinsische Belohnung (was die Psychologie schon lange wusste).
  • Man lernt leichter, besser, kreativer, wenn man positive Emotionen hat (das wusste übrigens Johann A. Comenius 1658 auch schon – was die Leistung der Neurowissenschaftlicher nicht schmälern soll, denn es ist schon auch wichtig zu verstehen, warum und wie bestimmte Abläufe in unseren Köpfen ablaufen).
  • Starke Angst und übermäßiger Stress erschweren Wissensspeicherung und Abruf.
  • Es gibt Entwicklungsphasen (kritische Perioden), in denen bestimmte Lernprozesse besser ablaufen als in anderen (z.B. Spracherwerb).
  • Eine Reizüberflutung beim Lernen sollte verhindert werden.

Problematisch an den bisher geleisteten Aussagen der Hirnforschung ist vor allem die Brücke zu schlagen von den allgemeinen Aussagen über das Gehirn durch artifizielle Testsituationen zur konkreten Schulsituation. Hier ist die Brücke noch nicht gebaut, die Ufer sind durch einen breiten Strom experimentellen Nichtwissens getrennt. In jedem Fall scheint mir dieser Check bisher nicht eingelöst. Problematisch im Klassenzimmer ist hierbei vor allem: Die meisten Aussagen aus der Hirnforschung sind zu allgemein, als dass sie beim konkreten Unterricht an Schule xy, mit Lehrer S. und Schülern 1-36 bei einem komplexen Stoff helfen könnten. Auch müsste man kritisch hinterfragen, was es zur Folge hat, wenn man propagiert, dass Lernen „Spaß machen muss“ – stimmt das? Was suggeriert man hier, den Lehrer als Clown und noch schlimmer, dass mit fast jedem Schüler/in was falsch ist, da keinem Normallerner zu jedem Zeitpunkt das Lernen Spaß macht? Ich muss umgekehrt sogar zugeben, dass ich mit Sorge beobachte, dass die deutschen Schulen direkt vom Kasernenhof in einen Freizeitpark übergehen könnten und kann mir nur schwer vorstellen, dass die meisten Neurowissenschaftler dies wünschen würden.

Was bleibt ist naturwissenschaftliche Hauptforderung: Auch eine Didaktik sollte sich der Empirie unterwerfen und es gibt auch keinen prinzipiellen Grund, abgesichertes Wissen aus der Hirnforschung nicht in die Modellbildung eines erfolgreichen Unterrichtes mit einbringen zu können. Aber so richtig diese Forderung ist, die entscheidende Empirie findet im Klassenzimmer statt, nicht in den Köpfen und Experimenten der Hirnforscher.

Aber auch das sei angemerkt: Kritik an den Neurowissenschaften entbindet keinen praktizierenden Pädagogen oder Didaktiker, seine eigenen Ergebnisse einer scharfen Kontrolle zu unterziehen.

Wie könnte ein Dialog zwischen Didaktikern, Pädagogen und Hirnforschern zustande kommen? Hier könnte vielleicht zur Vermeidung von Missverständnissen und allzu verkürzten Wahrheiten helfen, was in einem amerikanischen Buch zur Ausbildung von Wissenschaftsjournalisten („Field guide for Science Writers“) empfohlen wird, damit nicht nur das Glaubensbekenntnis eines einzelnen Wissenschaftlers zum Tragen kommt:

  1. Woher wissen Sie, was sie gerade berichtet haben? Ist es etwas, das aus Ihren Versuchen hervorgeht, oder ist es etwas, das Sie glauben?
  2. Wie haben Sie Ihre Daten erhoben?
  3. Wie zuverlässig sind die Messergebnisse?
  4. Wurden diese Daten in anderen Laboratorien reproduziert? Wenn ja, mit welcher Genauigkeit?
  5. Wie zuverlässig sind die benutzen Testsysteme?
  6. Welche Probleme könnten mit den Messergebnissen zusammenhängen? Wie übertragbar z.B. sind die Ergebnisse auf den Menschen?
  7. Stimmen Kollegen nicht mit Ihnen überein? Wenn ja, warum?

Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Martin Korte für den Beitrag und laden Sie herzlich zum Mitdiskutieren ein. Wir freuen uns, Sie am 2. bis 3. Juli 2022 (Sa.-So.) in Bensberg willkommen zu heißen.

2. bis 3. Juli 2022 (Sa.-So.)
Das Zeitalter der Naturwissenschaften
Welches Denken leitet Handeln und Entscheiden im 21. Jahrhundert?
Akademietagung in Bensberg

16. Juni 2022 || ein Beitrag von Dr. Martin Korte, Professor für Neurobiologie, TU Braunschweig

Prof. Dr. Martin Korte, TU Braunschweig