Richard Wagners Gipfelrausch in den Schweizer Alpen

Nach dem Mai-Aufstand von 1849 in Dresden steht auf der Fahndungsliste der Polizei ein gewisser Richard Wagner, Kapellmeister und Autor umstürzlerischer Pamphlete gegen die Monarchie. Er flieht zuerst nach Weimar zu Franz Liszt, seinem Zieh- und späteren Schwiegervater und auf dessen Geheiss mit gefälschtem Pass weiter in die Schweiz. In Zürich angekommen schwärmt er von der Pracht der hiesigen Gegend und holt seine Frau Minna am Bodensee ab, über einen ersten Fussmarsch von Rapperswil nach Rorschach (1).

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Wagner ca. 1840  (gemeinfrei)

Ein Auftritt 1850 in Paris trägt ihm eine fatale Liebesaffäre ein, worauf er sich mit seinem Freund Karl Ritter ins Wallis zurückzieht und zu Fuß von Visp bis Zermatt wandert (1a, 2 Tage). Da Ritter das gottverlassene Kaff unter dem Matterhorn (heute «Chinatown») sterbenslangweilig findet, tritt man den Rückweg via Bern nach Zürich an.

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………… Fussreisen        _________Fahrten

Mit seiner wieder versöhnten Frau (nach dem Seitensprung in Paris) wandert er von Arth aus auf die Rigi (2), wo die Gäste frühmorgens mit Alphornklängen für den Sonnenaufgang geweckt werden. Wagner wird im «Rheingold» sich daran erinnern (Wallhall-Thema), ebenso im «Tristan» 3. Akt, bei der Ankunft von Isolde’s Schiff.

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Die aufsteigenden Hornstösse des Dreiklangs kündigen den Einzug der Götter in Walhalla an, eine Abfolge von Alphorn-Klängen aus der Schweiz?

Im «Tristan» meldet sich das Englischhorn mit einem Hallali, gefolgt von einer Wiederholung alphorn-ähnlicher Tonschritte:

1851 nimmt Wagner mit seinem Dresdener Freund Theodor Uhlig den Säntis (3) in Angriff, den Ostschweizer Olymp: eine sehr anspruchsvolle Gebirgstour, mit primitiver Übernachtung im Appenzellerland. Der Felskoloss wird von hinten erklommen und Wagner holt sich auf dem Gipfel einen tüchtigen Adrenalinschub: die Erhabenheit des Alpenpanoramas ergreift sein ganzes Wesen. – Von solchen Emotionen werden noch viele pompöse Orchesterpartien durchdrungen sein. Dazu passend das damalige wagner’sche Bühnenbild mit seinen schroffen Felsschluchten, Grotten und mächtigen Burghügeln.

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Säntis-Massiv      (gemeinfrei)

Doch damit nicht genug: Mit Uhlig geht’s in die Zentralschweiz und hinauf aufs Rütli (4), dem heiligen Gründungsort der Schweiz, dann zur Tellskapelle und von Beckenried aus hinauf nach Engelberg und über den Surenenpass (5) auf 2350 m., einige Schneerutschen inklusive. Tags darauf von Amsteg (Uri) aus ins Maderanertal bis zum Gletscher (6). Hier oben hört Wagner die Hirtenrufe samt Echo, was wiederum im «Tristan» die Hirtenszene bei der Festung im 3. Akt erklären soll, wo das Englischhorn-Solo ein bukolisches Ambiente hervorzaubert:

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Der Schalmeiengesang tastet sich auf unbestimmtem harmonischen Terrain vor, bis hin zur jodelartigen Dreiton-Figur eines Hirtenrufes in luftigen Bergeshöhen.

Im Sommer 1852 folgt er den Spuren Mendelssohns, von Interlaken übers Lauterbrunnental und die Wengernalp bis aufs Faulhorn (7) auf 2683 m.

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Herberge auf dem Faulhorn (seit 1830) – hist. Photo             (gemeinfrei)

Wagner ist überwältigt. Er schreibt von einer «schrecklich erhabenen Bergwelt, inmitten von Schnee und Gletschern». Andererseits wettert er gegen die «raffgierigen Gastgeberinnen» des Berner Oberlandes. – Vom Grimsel-Hospiz aus nimmt er – mit einem hinterlistigen Führer – das Siedlerhorn (8) in Angriff, dessen Gipfel den Blick vom Monte Rosa bis zum Mont Blanc freigibt. Wagners Ergriffenheit kennt keine Grenzen (siehe den pathetischen Schluss der «Götterdämmerung», wo die dröhnenden Blech-Akkorde von stampfenden Bässen vorangetrieben werden und ein den Horizont überstrahlendes Fortissimo-Des-Dur das Werk abschließt).

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Schluss der Götterdämmerung (Klavierauszug)

– Gestärkt mit einer Flasche Champagner macht sich Wagner beschwingt auf den Weg hinunter ins Goms (Wallis) und genehmigt sich zwei Ruhetage, bevor er zum Griessgletscher aufsteigt. Wie sich der Führer über Schwächezeichen seines Kunden mokiert, erstürmt Wagner den Gletscher mit wütender Energie, watet durch Schneemassen und vermeidet gerade noch knapp die tödlichen Spalten. –

Die Überquerung des Griesspasses (9) eröffnet ihm eine südliche Perspektive. Den lästigen Führer lässt er zurück und durchwandert das hübsche italienische Tal bis hinunter nach Domodossola. Dazu in der Autobiographie: «Ich war trunken vor Freude, wie ein Kind, beim Anblick der Kastanien und der Kornfelder, dazu die Schönheit der Steinhäuser und ihrer Menschen.»

Per Schiff reist er von Stresa über Locarno nach Lugano, wo seine Frau auf ihn wartet.

Im Sommer 1853 ist eine Bäderkur in St. Moritz anberaumt, eine Reise ins Engadin von Zürich aus mit einer Diligence. Auf dem Julierpass ergreift Wagner erneut die gewaltige Schönheit der Felsmassen, und seine spätere Frau Cosima wird dazu festhalten: «Er erinnert mich daran, dass er auf der Julier-Passhöhe sich Wotan und Fricka vorgestellt habe, ‘da wo alles schweigt’». Und die rhythmischen Hufschläge der Pferde finden wohl ihr Echo im berühmten «Walküren-Ritt»:

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In St. Moritz langweilt sich Wagner in der Gesellschaft der alten Gicht- und Rheuma-Patienten zu Tode, leidet an «Action»-Entzug und sucht nach Fluchtmöglichkeiten in die Berge: ein Lehrer von Samedan bietet ihm eine Tour durch das lange Rosegg-Tal (10) an, wo Wagner zuhinterst wiederum seine Gletscher-Tauglichkeit unter Beweis stellen kann.

Zurück in Zürich lässt sich Wagner von den Wesendoncks verwöhnen. In den folgenden Jahren entstehen hier und auf Tribschen bei Luzern seine Hauptwerke. – Dazwischen verordnet er sich wieder Extra-Touren: nach St. Gallen (gemeinsames Konzert mit Liszt), ins Glarnerland, zum Rütli und nach Brunnen in der Seebucht, wo ursprünglich sein Festspielhaus stehen sollte, dann wieder auf die Rigi oder den Pilatus bei Luzern, doch eines Tages zieht es ihn nach Venedig, von wo aus er – mit Blick auf den Canal Grande – der Mathilde von Wesendonck seine Sehnsucht nach der Schweiz bekennt: «Ich vermisse mehr und mehr meine Wanderungen zu den Bergen, die Höhenluft….».

Q u e l l e n :

Eva Rieger/Hiltrud Schroeder, Ein Platz für Götter – Richard Wagners Wanderungen in der Schweiz, Böhlau Verlag, Köln 2009

Verena Naegele/Sibylle Ehrismann (Hrsg.), Alpenmythos im 19. Jahrhundert – Richard Wagners Wanderungen in der Schweiz, Ausstellungskatalog, Zürich 2008

Helmut Loos, Richard Wagner, Wax Verlag, Leipzig 2013

17. August 2023 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.

Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.