Die große Romantik
Vernunft oder Gefühl?
Im Leistungskurs Deutsch, dem ich Mitte der 1990er Jahre angehören durfte, bildeten sich zwei Lager heraus, die fortan in freundschaftlicher Rivalität verbunden waren: Auf der einen Seite standen die Anhänger der Aufklärung, auch als „Ratios“ bekannt. Sie feierten den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, den Fortschritt und das helle Tageslicht der Vernunft. Auf der anderen Seite sammelten sich, gerne im Mondenschein, die romantischen Träumer (und Träumerinnen!), die ihrer Emotionalität wegen den Spottnamen „Emos“ verpasst bekamen. Sie liebten Werther, E.T.A. Hoffmanns „Goldenen Topf“ und stritten mit heiterer Disziplinlosigkeit gegen die Philister. Vermutlich feierten sie auch Orgien. Es gab aber keinen Zweifel, dass mein Platz auf der Seite der Vernunft, der Mäßigung und des Lichtes sein musste – bis ich im Schallplattenfundus meines Vaters eine Sammlung von politischen Reden aus der Gründungsphase der Bundesrepublik fand.
Politische Reden
Knistern. Die Nadel senkte sich. Erst sprach Konrad Adenauer, im freundlich-jovialen Singsang versprach er ein „mächtiges Bollwerk gegen die Friedlosichkeit und den Ungeist des Weltbolschewismus“ zu errichten. Dann folgte knarzend, schnarrend und bellend Kurt Schumacher: „Privilegierte Konfessionen DARF ES NICHT GEBEN!“ Das ließ sich hören. Doch die beiden Wahlaufrufe stellte schließlich die Antrittsrede des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, rhetorisch in den Schatten.
Allein schon der Sound beeindruckte, lag er doch gefühlt mehrere Oktaven tiefer als der seiner Vorredner. Umso höher griff Heuss über den tagespolitischen Streit hinaus: „Deutschland braucht Europa, aber Europa braucht auch Deutschland.“ Und dann sagte er einen Satz, der den siebzehnjährigen Hörer vollkommen elektrisierte: „Seltsames deutsches Volk, voll der größten Spannungen, wo das Subalterne neben dem genial spekulativ Schweifenden, das Spießerhafte neben der großen Romantik steht!“
Ist Romantik spießig?
Leider findet sich im Internet keine Tonaufzeichnung der Rede. Man muss sich also die opahaft-schwäbische Intonierung dazu denken. So heftig ich mich umstandslos in den Begriff des „genial spekulativ Schweifenden“ verliebte, so sehr irritierte mich der Lobpreis der „großen Romantik“. Wieso stand denn nicht die große Aufklärung neben dem Spießerhaften? Waren nicht letztlich die Spießer auch Romantiker, die sonntags durch den deutschen Wald stapften und sich mithilfe Eichendorffscher Gefühligkeit aus der harten sozialen Realität träumten?
Bei allem jugendlichen Trotz vermochte es die konservierte Rede des Bundespräsidenten bald fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung, Zweifel gegen meine so fest geglaubte Ablehnung alles Romantischen zu säen. Dabei blieb es nicht. Auch der in diesem Blog schon gepriesene Unterricht unseres Kunstlehrers, Herrn T., unterminierte die Standhaftigkeit des aufklärerischen Lagers. Die große Reihe zu Caspar David Friedrich, dessen Wolkenmeere und Kreidefelsen uns zuvor als Inbegriff langweilig-gegenständlicher Ölschinken galten, lehrte uns, dass die Romantik keineswegs die Augen vor der Wirklichkeit verschloss. Und langweilig war sie erst recht nicht! Wir bekamen eine Ahnung davon, warum Friedrichs Mönch am Meer 1810 eine mindestens so große Provokation war wie Christos Reichstagsverhüllung oder Damien Hirsts Hai in Formaldehyd in den 1990ern.
Die große Romantik – gab es sie also wirklich?
Unbewusste Universalpoesie auf der Schulbühne
Wir beendeten unsere Schulzeit mit einer Theateraufführung, die Ratios und Emos in trauter Eintracht gemeinsam schufen, um uns selbst und der Welt zu beweisen, wie unglaublich gebildet und reif für den Ausgang aus der eigenen, natürlich unverschuldeten Unmündigkeit wir waren. Kants berühmten Aufsatz montierten wir mit einer Rede von Rudi Dutschke und einer freien Interpretation von Hugo Balls Dada-Gedicht „Karawane“ („jolifanto bambla ô falli bambla“) zu einem Gesamtkunstwerk, von dem wir meinten, es sei der Idee des Konzeptalbums à la Sgt. Pepper verpflichtet. Dass dies aber pure Romantik war, letztlich ein später Aufguss von Schlegels „progressiver Universalpoesie“ mit buntem Budenzauber, kam uns nicht in den Sinn. Immerhin war einer der Höhepunkte unseres Stücks eine Rezitation von Novalis‘ programmatischem Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“. Daran denke ich in diesen Tagen, da sich der Geburtstag des Dichters zum 250. Mal jährt:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Das fand ich schon damals schön, hätte es aber natürlich niemals zugegeben. Erst heute, viele Jahre später, wird mir deutlich, wie Novalis den Gegensatz von Licht und Schatten harmonisch zu überwinden sucht – ohne eine der beiden Realitäten aufzugeben. Erst gemeinsam ergeben sie „ächte Klarheit“. Wird darin nicht im Kleinen das eigentliche Verhältnis von Aufklärung und Romantik deutlich? Wo Licht ist, da gibt es auch Schatten. Wo Vernunft ist, da braucht es den Traum.
Der Traum der Vernunft
Vielleicht beschlich uns damals schon ein Verdacht beim Betrachten von Goyas berühmter Radierung „El sueño de la razón produce monstruos“ in unserem Deutschbuch.
War es vielleicht nicht die temporäre Abwesenheit der Vernunft, die Monster gebiert, sondern vielmehr der Traum vollkommener Vernunft? So hat es einmal der Politologe Wilhelm Hennis gedeutet, und die die deutsche Intellektuellen-Pop-Band Tocotronic sang einmal „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Das Dunkel gehört zur Realität wie das Licht. Wachheit ohne Schlaf und Schlaf ohne Traum führen in den Wahnsinn. Vielleicht kann also die Aufklärung nur wirksam sein, wenn sie mit der Romantik ausgesöhnt wird.
Der gedichtete Himmel der Romantik
Der Germanist Stefan Matuschek hat in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch „Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik“ in diese Richtung gewiesen: Lange habe man Aufklärung und Romantik gegeneinander profiliert. Die Romantik erscheine dann wahlweise als „selige Alternative zum Rationalismus“ oder als „Zerstörung der Vernunft“. So haben wir es auch in unserem Deutschunterricht gesehen, und so recht hat man uns aus diesem Irrglauben nicht herausbelehren können.
Dagegen stellt Matuschek klar: „Wer die Romantik als Gegenaufklärung versteht, geht jedoch an dem Neuen vorbei, das sie bringt. Es ist weder aufklärerisch, noch gegenaufklärerisch. Es ist die stilistische Antwort auf ein Problem, das die Aufklärung geschaffen hat, ohne es lösen zu können. Dieses ist das Problem der zu großen Fragen – zu groß für die arbeitsteilig spezialisierten, auf überprüfbare Ergebnisse hin arbeitenden Wissenschaften.“
Die großen Fragen des Lebens als Ganzem entzögen sich der wissenschaftlich exakten Bearbeitung. Mit den Kirchen und der Ständeordnung hatte aber die Aufklärung zwei Systeme entscheidend geschwächt, die zuvor in diesen großen Fragen Orientierung boten – freilich ohne diese Systeme durch ein neues, aufgeklärtes ersetzen zu können.
Hier tritt die Romantik auf den Plan, die Matuschek als „Kunst, metaphysische Luftschlösser zu bauen“ charakterisiert. So machte die Romantik, „deutlich, dass zur menschlichen Welt ein selbstgemachtes Jenseits, ein ‚gedichteter Himmel‘ gehört, dem sich vor allem die großen aufs Ganze gehenden Perspektiven verdanken“. Matuschek findet diesen Gedankengang verdichtet in einer kurzen Notiz von Novalis: „Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman seyn“.
Den Regenbogen sehen
Um also überhaupt sinnerfüllt leben zu können, brauchen wir mehr als die Vernunft der Aufklärung. Wir brauchen den „gedichteten Himmel“ der Romantiker, um ob der scheinbaren Sinnlosigkeit unserer Existenz nicht wahnsinnig oder traurig oder beides zu werden. Diese Erkenntnis fasste der österreichische Anarchist Leopold Kohr einmal in die schönen Worte: „Wir kommen aus Staub, wir enden im Staub. Und zwischendurch haben wir eine Menge Auslagen und Kosten. Für den Rationalisten ergibt das überhaupt keinen Sinn. Nur ein Romantiker sieht etwas in dem Regenbogen, der den Anfang mit dem Ende verbindet.“
„Die Welt muss romantisiert werden!“
In diesem Sinne wird dann auch Novalis programmatische Forderung plausibel: „Die Welt muss romantisiert werden.“ Und so kann man die Aufklärung als menschheitlichen Fortschritt begrüßen und zugleich Romantiker sein. Vielleicht geht es gar nicht anders.
So steht sie also bis heute da – neben dem Spießerhaften und dem Subalternen, die nicht kleinzukriegen sind, und ja, natürlich, neben und mit dem genial spekulativ Schweifenden: die große Romantik.
Buchtipp:
Stefan Matuschek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik
C.H.Beck, München, 2021
400 Seiten, 28 Euro
Einladung
Sie möchten der Romantik auf die Spur kommen? Dann laden wir Sie herzlich zu zwei Veranstaltungen der Thomas-Morus-Akademie in diesem Sommer ein:
Der Bensberger Romantik-Sommer (25. bis 28. Juni 2022) nähert sich dem Epochenphänomen Romantik mit Vorträgen, musikalischen Darbietungen, einem Museums- und einem Opernbesuch. Unter anderem wird Prof. Dr. Stefan Matuschek (Friedrich-Schiller-Universität Jena) als Referent mitwirken.
Vom 23. bis 25. August 2022 führt die Ferienakademie Überblendungen. Romantik gestern und heute unter Leitung von Dr. Andreas Baumerich über das Rheintal bis zum Deutschen Romantik Museum in Frankfurt am Main.
Bildnachweis
Caspar David Friedrich: Kreidefelsen auf Rügen (1818). Bild via Wikimedia commons, gemeinfrei
Bundeskanzler Adenauer mit Theodor Heuss (1959). Bild:
Franz Gareis: Portrait von Novalis (1799). Bild via Wikimedia commons, gemeinfrei
Francisco de Goya: El sueño de la razón produce monstruos (etwa 1797-1798). Bild via Wikimedia commons, gemeinfrei
Caspar David Friedrich: Landschaft mit Regenbogen (ca. 1810). Bild via Wikimedia commons, gemeinfrei
4. Mai 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert