Am Ende der Welt. Eine Reise ins Rheiderland

Was für die einen „dat Endje van de Welt“ ist, wurde für andere zur zweiten Heimat: Mark vom Hofe, ehemaliger Redakteur beim WDR, kaufte 2010 in Ditzum im Rheiderland das denkmalgeschützte, baufällige und wahrscheinlich älteste Haus der Gegend und baute es in Eigenregie um. Wer könnte folglich besser in das verwunschene Rheiderland mit seiner wohltuenden Bilderbuchlandschaft und ostfriesischen Lebensweise „einführen“?

Bis an das Ende der Welt sind es von Köln aus rund 300 Kilometer – mehr nicht. Dann ist bereits das „endje van de welt“ erreicht, wie der letzte Zipfel des Rheiderlands direkt vor dem Dollart als Übergang zur Nordsee im Volksmund heißt. Pogum heißt das kleine Dörfchen dort, wo die Ems immer breiter wird und ins Meer mündet. Der Dollart, vor 500 Jahren nach einer gewaltigen Sturmflut entstanden, die Siedlungen im Wasser versinken ließ, ist hier im westlichsten Teil Ostfrieslands das Grenzgewässer zwischen den Niederlanden und Deutschland. Und da es dort nur noch in den Dollart weitergeht, ist eben „dat endje van de welt“ erreicht.
Der kleine Landstrich ist in den letzten Jahren meistens zweimal im Jahr Schauplatz von spektakulären Ereignissen gewesen: Meist im Frühjahr und im Herbst wurden in der Meyer-Werft in Papenburg Kreuzfahrtschiffe fertig, die emsabwärts zum Meer geschleppt werden mussten – das mehrstöckige schwimmende Hochhaus hoch über die Deichkrone ragend, vorbei an den Dörfern, die nahezu sämtlich auf -um enden: Ferstenborgum, Kirchborgum, Bingum, Jemgum, Midlum, Critzum, Hatzum, Ditzum bis Pogum. Im Zuge der Corona-Krise lahmt die Kreuzfahrtbranche, so dass die Regelmäßigkeit von zwei abgelieferten Schiffen pro Jahr wohl erst einmal nicht mehr erreicht wird. Und damit wird auch das Spektakel ausbleiben, wenn auf den Wohnmobil- und Parkplätzen am Emsdeich meist zu nächtlicher Stunde bei Wurst und Bier die Vorbeifahrt des Riesen begleitet wird.
Noch bis in die 1960er/1970er Jahre wurde die Ems über Jahrhunderte als Transportweg des klassischen Produkts aus dem Rheiderland, abgesehen von der Milch, die unter dem Namen „Libby’s“ überall im Land bekannt war, genutzt – Ziegelsteine. In nahezu jedem der auf -um endenden Dörfer stand eine Ziegelei. Wer nicht in der Landwirtschaft oder der Fischerei arbeitete, brannte Ziegel. Der kleihaltige Boden im Emsvorland lieferte den benötigten Rohstoff, die mehrere tausend Formziegel auf einmal aufnehmenden Rundöfen, angefeuert zunächst noch mit Torf, später mit Kohle, wurden hart gebrannt und auf Loren direkt zum Hafen gebracht, um überall hin verschifft zu werden. Dementsprechend prägen die aus Backstein gebauten Häuser und Höfe das Bild Ostfrieslands – besonders eindrucksvoll sind die lang gestreckten Gulfhöfe mit einer repräsentativen Giebelfront, in der sich auch die Haustür mit den Wohnräumen befindet, an die sich der gewaltige Gulf mit unten Stallungen und darüber Heuboden und Lagerraum anschließt.
Noch erhalten ist die Ziegelei Cramer in Midlum, direkt hinter dem Emsdeich – von weitem sind die beiden Schornsteine zu sehen. Der Betrieb ist schon lange eingestellt, aber mit der Tradition verhaftete ehemalige Arbeiter und Heimatgeschichtler bemühen sich seit Jahren, das Gebäude zu einem Ziegeleimuseum auszugestalten – Führungen ab und an waren möglich, zu einer dauerhaften Lösung ist es bis jetzt aber nicht gekommen.
Neben der Milchwirtschaft prägt bis heute die Fischerei das Rheiderland – in Ditzum liegen noch sechs Kutter, die regelmäßig auf die Nordsee hinausfahren und vorrangig Krabben fangen. Früher lebten die Fischerfamilien vom Aalfang und dem Fischreichtum in der Ems. Unter der immer stärkeren Nutzung des Flusses für immer größere Schiffe, insbesondere den Kreuzfahrtriesen, litt die Ökologie der Ems so erheblich, dass sie heute kaum noch Fische beherbergt – was dazu führte, dass die Meyer-Werft den Fischern in den 1990er Jahren nagelneue leistungsstärkere Kutter überließ, um weiter rausfahren und den Lebensunterhalt sichern zu können. Die Kutter im von Ebbe und Flut abhängigen Hafen, zusammen mit der 1926 in Betrieb genommenen Fähre über die Ems nach Emden, sind heute die Attraktion des Rheiderlands und sorgen für ständiges Leben in dem kleinen Ort, besonders in den Urlaubszeiten. Und manchmal begeistert die Besucherinnen und Besucher auch, wenn Boote mit dem Kran aus dem Hafenbecken gehoben werden, um in der Traditionswerft Bültjer unmittelbar am Hafen restauriert oder überholt zu werden
Verschiedene Wohnmobilstellplätze, ausgewiesene Rad(fern)wege wie die Dollartroute oder der Emsradweg und Ferienwohnungen machen die Dörfer im Rheiderland zu nahezu jeder Jahreszeit zu einem ruhigen Ausflugs- und Kurzurlaubsziel. Die Kreisstadt Leer mit ihrer historischen Altstadt und dem Museumshafen ist gut 20 Kilometer entfernt, über die Autobahn A 280 ist die holländische Grenze schnell erreicht und damit auch die Universitätsstadt Groningen, das Zentrum Nordosthollands.
Wer freilich nach Norddeutschland fährt, um einen Strandurlaub zu machen, sucht dies im Rheiderland vergeblich. An der Ems gibt es keinen Strand, und am Dollartufer gibt es nur eine kleine Stelle in Höhe einer früheren Bohrinsel, an der es bei Hochwasser zu einem bescheidenen Bad reicht.
Rad fahren, kleine Dörfer mit ihrer charakteristischen Backsteinkultur entdecken, die evangelischen oder reformierten Kirchen besichtigen mit ihren Kirchhöfen, auf deren Grabsteinen typische ostfriesische Vornamen wie Onno, Fokke, Engeline, Tammo zu lesen sind, die stattlichen Gulfhöfe mit den umgebenden Hecken und hohen Laubbäumen als Windschutz besuchen, auf den saftigen Wiesen die charakteristischen Schwarz-Bunt-Kühe beim Grasen und Wiederkäuen beobachten und im Winter die Zehntausende von überwinternden Gänsen bestaunen, die sich mehrere Monate auf den Weiden und im Deichvorland im wahrsten Sinne des Wortes den Bauch voll fressen, um im Frühjahr den langen Flug in die Brutgebiete in Sibirien zu überstehen – das zusammen mit den Schafen auf dem Deich, der Weite und Unendlichkeit des Landes und einer 20minütigen „Kreuzfahrt“ auf der Ems mit der Fähre macht den Reiz des Rheiderlands aus, eines Landstrichs, den nicht jeder und jede kennt, weil etwas abgelegen, eben am „endje van de welt“.

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Mark vom Hofe

5. August 2020 || ein Beitrag von Mark vom Hofe, Vorsitzender Berg. Naturschutzverein