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FÜR EINE PASTORAL DES GUTEN EINDRUCKS (1. Teil)

Erfahrungen eines Seelsorgers in einem großstädtisch-säkularen Umfeld

Eine Frau, die in unserem Stadtteil ein Bistro führt und deren Tochter ich vor einigen Jahren getauft habe, berichtet mir, sie habe einem Gast erzählt, dass wir hier wirklich einen guten Pfarrer haben. Daraufhin kam von ihm die Bemerkung: „Wieviel hat er dir bezahlt, dass du das sagst?“

Mag dies ein krasser Einzelfall sein, so gibt er doch keine singuläre Aussage wieder, sondern repräsentiert weit verbreitete Meinungen. Der Kirche und ihren Vertretern ist alles zuzutrauen: Bestechung, schmierige Geschäfte, skrupelloses Handeln, und bis hin zu körperlichem und sexuellen Missbrauch und seiner Vertuschung ist da nicht mehr weit; schon seit Jahren macht der Begriff „Täterorganisation“ die Runde. Andererseits ist der Kirche und ihren Vertretern auch nichts mehr zuzutrauen: kein korrektes Tun, unfähig zu allem, von einer vorbildlichen, auf der Höhe der Zeit befindlichen Praxis, z.B. in der konkreten Gemeinde vor Ort ganz zu schweigen. Auch wenn man den Pfarrer gar nicht kennt, bei diesem „Verein“ kann gar nichts Gutes mehr geschehen. In weiten Teilen der Bevölkerung hat die katholische Kirche jeglichen Kredit verspielt.

Waren Pfarrer und Gemeinde vor gut 15 bis 20 Jahren in diesem Stadtteil gut verankert und im Großen und Ganzen integriert, kann davon heute, 2021, keine Rede mehr sein; insbesondere durch die in den verschiedenen Ebenen der Kirche geschehenen und öffentlich gewordenen Skandale der letzten Jahre (Missbrauch, Finanzgebaren, ungenügendes Management in den Diözesanleitungen) geschieht eine Dynamik ins Negative. Unsere Pfarrgemeinde – eine marginale Größe im Stadtteil: Die sonntäglichen Kirchenbesucherzahlen sind unter 10 % gesunken, die Austritte jährlich in die Höhe gegangen, und über ein Viertel der Bevölkerung ist mittlerweile konfessionslos. Religiöse Praxis vollzieht sich vor allem im Umfeld von Kasualien, steter Sonntagsmessbesuch ist zur absoluten Seltenheit geworden, selbst früher sehr verbreitetes Brauchtum ist nur mehr sehr rudimentär vorhanden (die völlig verständnislosen Passantenblicke während der Fronleichnamsprozession sprechen Bände), religiöses Wissen geht gegen null. Das alles wird umformt durch die Kultur des Verdachts, die allenthalben grassiert (siehe oben), forciert durch eine miserable öffentliche Performance, die alles andere als evangeliumsgemäß ist: „Statt der frohen Botschaft aber sendet sie [Kirche] fast nur schlechte Nachrichten aus: Es mangelt an Priesternachwuchs, Pfarreien brechen zusammen, Hunderttausende treten jährlich aus. Wie so viele verbinden auch Sie mit Kirche nicht mehr Barmherzigkeit, sondern Bevormundung, nicht mehr Seelsorge, sondern Starrsinn, nicht mehr Anteilnahme, sondern Arroganz. Und dann haben Sie von Pfarrern gehört, die auf der Beerdigungsfeier nicht einmal den Namen der verstorbenen Mutter richtig aussprechen. Sie haben von Mädchen gehört, die in Seelsorge-Gesprächen ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt schilderten, daraufhin vom Kaplan mit schmierigen Sprüchen und dem Rat bedacht werden, sich eben anders zu kleiden“ (Christian Schüle, Wo führt das hin? In: Theo 1/2020, S. 17). Den (sozialen) Medien ist vorzuwerfen, dass diese oftmals die Aussendung solcher katastrophalen Nachrichten noch weiter verschlechtern, indem verzerrt, pauschalisiert und übertrieben wird sowie nicht mehr der Hauch einer Chance zu sachlich-objektiver Auseinandersetzung gelassen wird. Wenn bei genauerem Hinsehen sich manches auch anders darstellt: was einmal in den Chats, Foren und Zeitungen drinsteht und was über die Bildschirme gelaufen ist, ist in der Öffentlichkeit und bekommt damit eine selbstläuferische Relevanz (die Kirche …, alle Pfarrer …). Dagegen anzugehen ist chancenlos, besonders auch für die Seelsorger vor Ort, die ja die konkreten Repräsentanten dieser „Täterorganisation“ sind und sofort mit unter Generalverdacht gestellt werden. Diese können noch so engagiert und glaubwürdig handeln, durch die nächstbeste Negativmeldung (kontroverses Papst- oder Bischofswort, umstrittene Lehrinhalte, Fehlverhalten eines kirchlichen Vertreters, egal wo immer) wird alles positive Wirken stante pede ad absurdum geführt – ein Teufelskreis.

In den letzten Jahren musste ich in einem manchmal recht anstrengend-mühsamen Lernprozess akzeptieren, dass

  • die Kirche als Vertrauensraum völlig versagt hat. Der Verlust des Vertrauens der Menschen in ihre Integrität – lediglich 15 % der Deutschen bezeichnen die katholische Kirche als vertrauenswürdige Institution (Forsa-Umfrage) – wiegt schwerer als der Verlust vieler Mitglieder.
  • die Kirche ihre Legitimität verloren hat. Eine wie immer geartete gesellschaftliche Relevanz, die sich in der respektvoll-akzeptierten (nicht kritiklosen) Auseinandersetzung mit den Seelsorgern ausdrückt, wenn sie in der Predigt oder bei anderen Gelegenheiten sich zu bedeutenden Themen (z.B. ethische Fragen) äußern, ist nicht mehr vorhanden. Selbst die offensichtlichsten Pluspunkte der christlichen Tradition (reflektierte Theologie, Einsatz für die sozial Schwachen, atmosphärisch gelungene Gottesdienste) können argumentativ nichts mehr ausrichten. Und Theologengezänk will wirklich niemand hören.
  • die Kirche und ihre Botschaft als wirklichkeitsfern gesehen werden. Schon vor Jahren hat der anglikanische Priester Nick Gumbel von drei Hauptargumenten gegen Glaube und Kirche gesprochen: unattraktiv (langweilig), unwahr (unvernünftige Märchenstunde), unwichtig (belangloses, verquastes Lehrgebäude).
  • jegliches öffentliche Engagement der Kirche, gerade in Lehre und Missionierung (Neuevangelisierung) als Einmischung in die inneren Angelegenheiten gesehen wird, in welchen Bereichen auch immer. Glaube, gerade dann, wenn er konkret wird (z.B. Vorbereitung und Durchführung der Erstkommunion), ist zum Störfaktor der alltäglichen Lebensgestaltung vieler geworden.
  • die Kirche und ihre Vertreter mit großen Praxis- und Kompetenzdefiziten wahrgenommen werden. Für mich war das Gespräch mit einem (der Kirche verbundenen) Bestatter sehr aufschlussreich. „Sie glauben gar nicht, was ich alles bei den Trauerfeiern mit kirchlicher Beteiligung erlebe: die einen ‚hauen‘ den Ritus runter, empathielos schnell, andere verschanzen sich hinter ihren Ritusvorgaben, sodass es steif und unpersönlich wirkt, Dritte haben einen salbungsvollen Ton drauf, der völlig deplatziert ist. Und weil es manche besonders gut machen und zeigen wollen, dass da ein ganz cooler Geistlicher am Werk ist, verkommt manche Feier zur Tragikomödie.“ Ich fürchte, dass dieses Urteil vice versa auch für andere „kirchliche Handlungen“ gilt – Gott sei’s geklagt.
  • sich die Kirche mit Werten und Überzeugungen, die in einer sich demokratisch gebenden Gesellschaft einen hohen Stellenwert haben, äußerst schwertut, ja sie viel zu wenig bereit ist, darüber sich positiv auseinanderzusetzen. Ob das nun eine überaus starke Individualisierung (eigene Lieblingslieder im Gottesdienst, kein Gottesbezug auf Sterbebildern) ist oder die in westlichen Staaten über allem stehende Selbstbestimmung (gerade im sexuellen Bereich): wer meint, dagegen mit dem nicht evangeliumsgemäßen Argument „Zeitgeist“ ankämpfen zu können, hat schon verloren.

Ich bin dem Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollak für seine hellsichtige Analyse dankbar: „Dabei gründet meiner Wahrnehmung nach ein Großteil der Kritik in und außerhalb der Kirche nicht auf selbstgemachten Erfahrungen …Die meisten Menschen gehen ja nicht mehr in die Kirche und können daher auch nicht wahrnehmen, welch überzeugende Arbeit die Pastorinnen und Pfarrer leisten. Ich glaube, sehr viele Menschen wissen nicht, wie nah die Kirche tatsächlich bei den Menschen ist, wie stark sie sich auf die Bedürfnisse einlässt. Das Bild von den Kirchen ist vor allem von Vorurteilen bestimmt, die der Institution der Fünfziger- oder Sechzigerjahre entsprechen: eine autoritäre Kirche, die Dogmen lehrt und Menschen zum Gehorsam zwingt. Mit dem Leben in der Kirche heute … hat das wenig zu tun. Das Bild von der Kirche hat sich grotesk verselbständigt. Die Folge: Kirche kann machen, was sie will, sie erreicht die Menschen nicht mehr“ (DIE ZEIT, Beilage Christ und Welt, 4. 3. 2021). Dem stimme ich zu, nicht nur, weil es richtig und spannungsmindernd ist, sondern weil hier ein Wirklichkeitsbefund vorgestellt wird, den ich in meiner seelsorglichen Praxis erlebe: viele sind in ihrer Sichtweise von Kirche stehengeblieben und nicht auf dem aktuellen Stand, die in der öffentlichen Wahrnehmung präsenten Bilder geben Verzerrtes wieder und wir erreichen die Menschen nicht mehr. Vor allem aber: Wer die Kirche nicht in ihren wesentlichen Äußerungen (Gottesdienst, Sakramente, Predigt, Gespräch) kennenlernt und erlebt, hat gewaltige, (eigentlich) nicht mehr zu korrigierende Defizite an der Wirklichkeit des real existierenden Katholizismus; da kann man als Seelsorger noch so überzeugend und vorbildlich arbeiten.

Cover: VERLAG FRIEDRICH PUSTET

10. November 2023 || ein Beitrag von Msgr. Dr. Werner Schrüfer, Domvikar, Künstlerseelsorger und Leiter der homiletischen Aus- und Fortbildung im Bistum Regensburg

Monsignore Dr. Werner Schrüfer

Der 2. Teil des Beitrags „FÜR EINE PASTORAL DES GUTEN EINDRUCKS. Erfahrungen eines Seelsorgers in einem großstädtisch-säkularen Umfeld“ von Dr. Werner Schrüfer erscheint in der kommenden Woche in unserem Blog.

Der Text stammt aus seinem Buch:

Das wäre doch nicht nötig gewesen
Texte und Bilder aus 40 Jahren
Dr. Werner Schrüfer

Werner Schrüfer - Das wäre doch nicht nötig gewesen

Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in: Klerusblatt 102, 2022.