1. Weihnachtstag

Es war einmal ein Wolf. Er lebte in der Gegend von Betlehem. Die Hirten wussten um seine Gefährlichkeit und waren jeden Abend damit beschäftigt, ihre Schafe vor ihm in Sicherheit zu bringen, denn der Wolf war hungrig, listig und böse.

Es war in der Heiligen Nacht. Eben war der wundersame Gesang der Engel verstummt.

Ein Kind sollte geboren worden sein, ein Knabe. Der Wolf wunderte sich sehr, dass die rauen Hirten allesamt hingingen, um ein Kind anzusehen. „Wegen eines neugeborenen Kindes so ein Getue!“ dachte der Wolf. Aber neugierig geworden und hungrig, wie er war, schlich er ihnen nach. Beim Stall angekommen versteckte er sich und wartete.

Als die Hirten nach der Huldigung an Jesus sich von Maria und Josef verabschiedeten, hielt der Wolf seine Zeit für gekommen. Er wartete noch, bis Maria und Josef eingeschlafen waren; die ausgestandene Sorge und Freude über das Kind hatten sie sehr müde gemacht.

„Umso besser“, dachte der Wolf, „ich werde mit dem Kind beginnen!“

Auf leisen Pfoten schlich er in den Stall. Niemand bemerkte sein Kommen. Allein das Kind. Es blickte voll Liebe auf den Wolf, der sich Tatze vor Tatze setzende lautlos an die Krippe heranschob.

Er hatte den Rachen weit geöffnet und die Zunge hing ihm heraus. Er war schrecklich anzusehen.

Nun stand er dicht an der Krippe. „Ein leichtes Fressen!“ dachte der Wolf und schleckte sich begierig die Lefzen. Er setze zum Sprung an.

Da berührte ihn behutsam und liebevoll die Hand des Jesuskindes. Das erste Mal in seinem Leben streichelte jemand sein hässliches, struppiges Fell, und mit einer Stimme, wie der Wolf sie noch nie vernommen hatte, sagte das Kind: „Lieber Wolf!“

Da geschah etwas Unvorstellbares: Im dunklen Stall von Bethlehem platzte die Tierhaut des Wolfes – und heraus stieg ein Mensch! Ein wirklicher Mensch! Der Mensch sank in die Knie, küsste die Hände des Kindes und betete es an. Dann verließ er den Stall, lautlos, wie er zuvor als Wolf gekommen war, und ging in die Welt, um allen zu künden: Dieses göttliche Kind kann dich erlösend berühren!

(Text von Huub Osterhuis)

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25. Dezember 2023 || ein Beitrag von Weihbischof Ansgar Puff