Kein Weihnachtsengel – Die Heimkehr der Vittoria alata
Eigentlich hätte es ein rauschendes Fest werden sollen. Ende November 2020 kehrte die „geflügelte Victoria“ aus Florenz, wo sie zwei Jahre lang untersucht und restauriert worden war, nach Brescia zurück. Zwischenzeitlich diente eine Kopie als Platzhalterin.
Abb. 1 Die Platzhalterin – Kopie der Vittoria alata im Museum (Foto: Mik2001 CC BY-SA 4.0)
Doch alle Feierlichkeiten mussten ausfallen, denn die Museen bleiben auch in der Lombardei geschlossen. Zu anderen Zeiten hätte man das Ereignis zelebriert, ist doch die monumentale Statue der Siegesgöttin so etwas wie das Wahrzeichen der Stadt. Es handelt sich um eine der raren antiken Großbronzen, die der Einschmelzungswut der Barbaren nachfolgender Jahrhunderte entgangen sind. Wie ein wunderschöner Engel sieht sie aus. Das ist kein Zufall, leitet sich doch die Darstellung christlicher Himmelsboten vom Bild antiker Genien und geflügelter Siegesgöttinnen ab. Aber die „vittoria alata“ ist mitnichten ein Weihnachtsengel.
Abb. 2 Das antike Original in Bronze – Die Siegesgöttin von Brescia (Foto: Stefano Bolognini)
Im Juli 1826 wurde die Statue bei gezielten Ausgrabungen im Bereich des römischen Kapitols zutage gefördert. Damals ragte nur ein einziges Kapitell aus weißem Stein in einem privaten Garten als Überbleibsel der einstigen Forumsbauten aus dem Boden und wies den eifrigen Ausgräbern den Weg. Spatenstich um Spatenstich wurden die Überreste des antiken Brixia, so der aus keltischer Zeit stammende Name der Siedlung, freigelegt. Die Bauten befanden sich am Fuße des Cidneo-Hügels, auf dem heute noch das trutzige Castello thront. Von dort hat man einen wunderbaren Blick auf die Altstadt, aus deren Gassengewirr die Kuppel des Neuen Doms herausragt.
Abb. 3 Der Duomo Nuovo – Vom Cidneo aus gesehen (Foto: Pedritosway / Template: Andrea Bonassi CC BY 3.0)
Zu Tal rutschende Erdmassen vom Cidneo hatten sich im Laufe der Jahrhunderte gnädig über die antiken Ruinen gelegt, so dass die Mauerzüge darunter ungewöhnlich gut erhalten blieben. Dieser Umstand bescherte Brescia eines der bedeutendsten antiken Denkmalensembles Norditaliens. Der Eifer der Ausgräber wurde zudem aufs Glücklichste belohnt. In einem Hohlraum beim Kapitolstempel stieß man auf einen sorgfältig vor den begehrlichen Blicken plündernder Barbaren verborgenen Schatz: Sechs Büsten und weitere Schmuckelemente aus Bronze. Das kostbarste Stück des Hortfundes war jedoch die geflügelte Victoria – allerdings zunächst ohne Flügel. Diese waren, ebenso wie beide Arme, säuberlich neben der Statue deponiert worden. Schon 1830 konnte im rekonstruierten Kapitol von Brescia das Museo Patria eröffnet werden.
Abb. 4 Unesco Welterbe – Das Kapitol von Brescia (Foto: xiguinhosilva CC BY 2.0)
Prominentestes Exponat war die wieder zusammengefügte und durch ein neues Metallgerüst stabilisierte Siegesgöttin. So gewappnet wurde die Schöne bald prominent. Nach der Schlacht von Solferino wünschte sich nicht nur Napoleon III. eine Kopie. Er bekam sie und das Werk ist heute noch im Louvre zu bewundern. Doch sollte man diese Bronzefigur keinesfalls verwechseln mit der steinernen Siegesgöttin im dortigen großen Treppenhaus, die wir alle aus dem Vorspann der „100 Meisterwerke“ kennen: Die Nike von Samothrake. Aber ein Vergleich ist interessant: Die griechische Nike stürmt als Bugfigur mit dramatisch flatterndem Gewand triumphierend voran. Die Victoria von Brescia dagegen scheint eher nachsinnend in sich zu ruhen. Und sie hat eine beachtliche erotische Ausstrahlung. Wie kommt das? Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte ist da erhellend. Lange Zeit glaubte man, die Statue sei ein Werk der griechischen Klassik. Inzwischen ist die Forschung einig, dass man es doch in die römische Kaiserzeit datieren muss. Allerdings orientierte sich der unbekannte Künstler im ersten nachchristlichen Jahrhundert an klassischen Vorbildern – „retro“ war auch damals schick. Da griechische Bronzebildwerke fast ausnahmslos verloren sind, können wir ihr Aussehen nur über Marmorkopien aus römischer Zeit rekonstruieren. So reflektiert die berühmte Venus von Capua (2. Jh. n. Chr.) vermutlich ein verlorenes Kultbild der Aphrodite in Corinth.
Abb. 5 Zwillingsschwester – Die Venus von Capua (Foto: Marie-Lan Nguyen CC BY 2.5 generic)
Wir hingegen erkennen in ihr unschwer eine Zwillingsschwester der Vittoria von Brescia. Nur die Flügel fehlen. Aber eine Venus braucht derlei nicht. Sie setzte wohl den Fuß auf den Helm des von ihr besiegten Kriegsgottes Mars und spiegelte sich in dessen Schild, den sie ehemals in ihren Händen hielt. Der Schöpfer der Victoria von Brescia kopierte vermutlich eine klassische Venusstatue vom „Typus Capua“. Sie wurde durch Flügel ergänzt und den heute verlorenen Schild nutzte die Göttin nun für eine rühmende Inschrift, wohl zu Ehren eines Feldherrn. Archäologen nennen eine solche Darstellung „Victoria in clipeo scribens“, eine auf ihren Schild schreibende Siegesgöttin. Geblieben war die verführerische Schönheit, gleichsam als Erbe der Venus. Zwar ist der Oberkörper nicht nackt wie bei der Liebesgöttin, aber wirkt der „wetlook“ ihres wie nass anliegenden Chitons nicht erotischer als bloße Haut?
Bis 1998 blieb die verführerische Dame auf dem Kapitolshügel. Dann ging sie ins Kloster. Das heißt, sie zog in den neu eröffneten Museumskomplex von Santa Giulia um. Auch dieses von den Langobarden gegründete Kloster steht, ebenso wie der Kapitolshügel von Brescia, auf der Unesco-Liste der Welterbestätten. Das Museum bietet einen faszinierenden Querschnitt durch die Kulturgeschichte der Stadt. Und das ganz wörtlich: Der Besucher steigt zu den in situ unter den Ausstellungsräumen erhaltenen Mosaikfußböden römischer Villen hinab, bestaunt ehrfürchtig die langobardische Basilika San Salvatore und bewundert die Renaissancefresken im hoch gelegenen Nonnenchor.
Abb. 6 Römischer Mosaikfußboden unter dem Museumskomplex von Santa Giulia (Foto: Zairon CC BY 4.0 international)
Abb. 7 Renaissancefresken im Nonnenchor von Santa Giulia (Foto: Zairon CC BY 4.0 international)
In der römischen Sammlung des Museums konnte der durch die Jahrhunderte flanierende Besucher bis 2018 auch der geflügelten Victoria begegnen. Allerdings war schon bei ihrem Umzug 1998 festgestellt worden, dass die alte Dame eine Kur benötigte. Nun wurde in zweijähriger Arbeit das inzwischen marode Stützgerüst aus dem 19. Jahrhundert im Inneren der Statue entfernt und durch eine neue Konstruktion ersetzt. Für die Rückkehr der restaurierten Plastik auf den Kapitolshügel gestaltete der spanische Architekt und Künstler Juan Navarro Baldeweg eigens eine Cella des Tempels neu. Eine eindrucksvolle Illumination, die auch den verlorenen Schild evozieren kann, soll die Siegesgöttin ganz in der Nähe ihres Fundortes spektakulär in Szene setzen. Wann aber die Victoria endlich auf ihrem neuen, erdbebensicheren Hightech-Sockel im Kapitolstempel zu bewundern sein wird, steht in den Sternen. Jedenfalls hat die italienische Post bereits eine Briefmarke zu ihren Ehren vorbereitet. Aber wer schreibt heute noch Briefe? Da erscheint ein eigens aufgelegter Comic des Hauses Panini zeitgemäßer: „Topolino e l’avventura della Minni Alata“. Diese Abenteuer von Mickey Mouse und seiner plötzlich geflügelten Freundin Minnie im Museum von Brescia werden sicher die Popularität der Siegesgöttin auch im 21. Jahrhundert beflügeln.
26. Dezember 2020 || ein Beitrag der Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters
Vom 27. September bis 4. Oktober 2021 (Mo.-Mo.) leitet Dr. Elisabeth Peters die Ferienakademie „Zwei Städte. Zwei Seen.Bergamo und Brescia. Gardasee und Iseosee“.
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