Madrid. Etwas Großes kommt auf Sie zu!
Freitag, 22.Oktober 2004: El pueblo español tiene un camino que conduce a una estrella
Ich sitze an der Bar von Muñiz, einem kleinen schmucklosen Café an der Ecke Calle Leon/Calle Huertas. Neben mir am Tresen hocken ein paar alte Männer, die Kaffee schlürfen, aber auch schon den ersten (zweiten? Dritten? Xten?) Schnaps des Tages nehmen und dazu eine Zigarette rauchen. Vor mir türmen die beiden Barmänner – es sind wohl Brüder – Würste, Fisch, Gratins und irgendwelche Platten auf. Man darf keinen empfindlichen Magen haben, wenn man beim Anblick dieser Sachen frühstücken will. Aber der Café con leche ist gut, dazu gibt es irgendein kleines Teilchen, das ich mir aus den vielen herumstehenden Gebäcksorten ausgesucht habe. Die Herren plaudern angeregt, an den Wänden hängen alte Mannschaftsbilder von Athletico Madrid, ein Spielautomat blinkt und klingelt. Hier kehren die Müllmänner und Verkehrspolizisten ein, wenn sie mal eine Pause haben, hier kommen Nachbarn vorbei, man kennt sich.
Nach meinem üblichen Spaziergang durch die Straßen Madrids suche ich das Restaurant Glorea de la Montera auf, das einen Mittagstisch anbietet. Als ich eintreffe, wartet bereits eine Schlange von Leuten vor dem Eingang. Lauter stylische junge Spanier aus den umliegenden Büros, die in Grüppchen ihr Mittagessen einnehmen. Hier erweist es sich das Alleinsein als Nachteil: Während die anderen munter plaudern, sitzt man selbst stumm und etwas verloren an einem Einzeltisch in der Nähe der Tür. Bald wird es aber auch schon wieder Zeit. Das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía wartet.
Dieses Museum für spanische Kunst des 20. Jahrhunderts ist in einem alten Hospital untergebracht, das Karl III. erbauen ließ und in dem bis 1965 noch Kranke behandelt wurden. Bei der Renovierung hat man versucht, den Vierflügelbau des Hofarchitekten Sabatini weitgehend unangetastet zu lassen. Aus diesem Grund sind die beiden Aufzüge als gläserne Schächte vor dir Fassade gesetzt worden.
Vor dem Eingang des Museums steht eine hoch aufstrebende Skulptur, die der Bildhauer Alberto für den spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1937 geschaffen hat. Sie trägt den programmatischen Namen “El pueblo español tiene un camino que conduce a una estrella” – Das spanische Volk ist auf einem Weg, der zu einem Stern führt. Wir wissen, dass dieser Weg kurze Zeit nach der Weltausstellung gewaltsam unterbrochen, wenn auch nicht beendet, wurde. Nichts zeugt von dieser Katastrophe eindrücklicher als jenes Kunstwerk, das den Höhepunkt in der Sammlung des Reina Sofía darstellt: Pablo Picassos Guernica. Kein Zweifel, ich bin auch und nicht zuletzt wegen Guernica in Madrid. Es steht ganz oben auf der Liste der Kunstwerke, die ich unbedingt sehen möchte. Von diesem Bild geht ein Sog aus, wie von wenigen anderen Kunstwerken. Jeder kennt es; zuletzt konnte man während des Irakkriegs täglich die Kopie sehen, die im Hauptquartier der Vereinten Nationen hängt, um die Verantwortlichen der Welt an die Schrecken des Krieges zu erinnern, auf dass der Friede gewahrt bleiben möge.
Ich bin unruhig, gehe zuerst in den kleinen Garten im Innenhof, setze mich auf eine Bank. Um mich herum buntes Treiben. Dann beginne ich den Rundgang, der im ersten Stock mit dem spanischen Expressionisten Solana beginnt. Es schließen sich Werke anderer Expressionisten und Kubisten an, etwa von Juan Gris, daneben gibt es Fotos von Buñuel und Man Ray, auf denen Dalí, Garcia Lorca und andere Maler und Dichter zu sehen sind.
Langsam nähere ich mich dem anderen Ende des langen Gangs. Dort steht die Skulptur „Der große Prophet“ des Bildhauers Gargallo. Der Rufer in der Wüste kündigt nahendes Unheil an. Seine Lippen formen deutliche Worte, mahnend erhebt er die rechte Hand, verweist auf das Kommende. Die Besucher ziehen an ihm vorbei durch den kleinen Durchgang zum nächsten Saal. Ich verweile beim Propheten und denke an den Werbespruchs einer deutschen Kinokette: „Etwas Großes kommt auf Sie zu!“ So fühle ich mich jetzt: Man kann es nicht sehen, aber ahnen, da hinter dieser Trennwand, da wird es hängen, allein, einen ganzen Raum beherrschend. Die Menschen werden verstummen, innehalten – keiner, der nicht berührt wäre vom Jahrhundertwerk des Meisters aus Málaga.
Ich gehe weiter. Der Schrecken kommt häppchenweise in Form von kleinen Vorstudien und Skizzen: das schreiende Pferd, die Mutter mit dem toten Kind, der Stierkopf – lauter Puzzleteilchen, Ausschnitte des einen Ganzen. Am Ende der Strecke steht ein Modell des Pavillons von 1937: ein moderner Stahl- und Glasbau, mit dem sich die spanische Republik der Welt präsentierte. An den Wänden sind Propagandatafeln angebracht: Die republikanische Regierung rühmt sich damit, in der kurzen Zeit ihres Bestehens mehr Schulen gebaut zu haben als die monarchistische in den vergangenen Jahrzehnten. Wie viel Hoffnung dieser Bau damals verkörpert haben muss!
In Scharen sind die Intellektuellen und Abenteurer dann auch der bedrängten Republik zur Hilfe geeilt, im Kampf gegen die faschistische Mischpoke. Ich spüre Hass auf die Putschisten, die Weißen, die im Verein mit der schändlichen Mutter Kirche alles zunichte gemacht haben. Selten schienen die Fronten so klar wie im Spanischen Bürgerkrieg: Gut und Böse, Fortschritt und Reaktion, Hemingway, Orwell, Koestler und wie sie alle hießen gegen Hitler, Mussolini und die Legion Condor. Und doch ist alles komplizierter gewesen. Ich denke an El Sordo’s last stand, eine der besten Stellen in Hemingways „For whom the bell tolls“: Wie der junge Loyalist im Bombenhagel plötzlich von der kommunistischen Rhetorik der Pasionaria in das „Gegrüßet seist du Maria“ verfällt. Ich denke an Orwells verbitterten Bericht über die Straßenkämpfe in Barcelona, wo Kommunisten und Anarchisten gegeneinander intrigierten, anstatt gemeinsam die faschistischen Verbände zu bekämpfen. Was bleibt, ist die Abscheu gegen den Krieg und die menschenverachtenden Ideologien, diese verquasten Glaubensgebäude, die immer auf die Masse setzen und denen der einzelne Mensch nichts bedeutet.
Nun bin ich bereit, trete auf die andere Seite der Trennwand. Da hängt es, meterlang, ein Albtraum in Schwarz und Grau – Guernica. Jetzt ist es irgendwie selbstverständlich, die Spannung ist weg, man sieht letztlich: Bekanntes. Vor dem Bild steht eine Schulklasse aus Frankreich; ein Mädchen liest eine Bildbetrachtung vor. Ich stelle mich in die letzte Reihe und höre zu. Glühbirne, davon ausgehend die Bilddiagonalen, Stier und Pferd – die Tiere des Stierkampfes, die weinende Mutter am Bildrand, die Blume als Zeichen der Hoffnung, ganz klein, ganz schwach. Die Schüler neben mir unterhalten sich über das anstehende Abendprogramm, die Museumswärter verziehen keine Miene.
Ich gehe weiter, betrachte noch einige Gemälde von Picasso, eine Bildfolge aus dem Spätwerk, über den Maler und sein Modell. Schließlich das Bild einer Frau, das eine große Ruhe ausstrahlt. Hier wird mir der Gegensatz von Krieg und Frieden noch einmal bewusst – die warmen Farben gegen das düstere Grau-Schwarz, das harmonische menschliche Antlitz gegen die schmerzverzerrte Fratze der gepeinigten Kreatur. Für einen Menschen, der den Krieg nie am eigenen Leib erfahren hat, ist es schwer, sich die Schrecken des Krieges zu vergegenwärtigen. Die Kunst, so denke ich, kann dabei stärker noch als die Wissenschaft helfen, indem sie eindringlich vermittelt, was auf dem Spiel steht. Picasso hat über Guernica gesagt, dass es sein einziges Werk in propagandistischer Absicht sei. Aus dem Kontext der spanischen Geschichte ist es aber längst herausgetreten und zur Propaganda für den Frieden auf der ganzen Welt, gegen jeden Krieg geworden. Als solches ist es einzigartig.
Ich setze meinen Rundgang durch das Museum fort, bleibe lange im letzten Stockwerk bei der modernen spanischen Kunst, bei Antoni Tàpies’ Materialgemälden und Antonio Sauras großen, flächigen Bildern in Grau und Braun. Endlos lang ziehen sich die Fluchten der Ausstellungsräume, in denen spanische und internationale Kunst im Dialog dargestellt werden. So bekommt man auch einen kleinen Mark Rothko zu sehen, dazu Bilder von Bruce Naumann und Yves Klein. Immer wieder unterbreche ich meinen Gang und kehre ich zu Guernica zurück, beobachte die Veränderungen vor dem Gemälde, die Reaktionen der Menschen. Schließlich, bei meinem letzten „Besuch“ bin ich beinahe allein in dem Saal, niemand versperrt die Sicht und ich versuche noch einmal, mir das Bild einzuprägen. Dann kann ich gehen.
Als ich das Museum verlasse, geht gerade die Sonne unter und taucht die Plaza Dura in ein wunderbares Licht. Ich setze mich auf ein Mäuerchen und rauche eine Zigarette. Dann mache ich mich wieder auf den Weg, ich habe Hunger.
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Bildnachweis
Guernica im Reina Sofia. Bild: Saint Louis University Madrid Campus auf Flickr (CC BY-ND 2.0)
Der Prophet (Johannes der Täufer). Skulptur von Pablo Gargallo (1933). Bild: Sailko via Wikimedia (CC BY 3.0)
9. Oktober 2021 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert