Alle sollen heilig sein!
Am 1. November feiert die Kirche das Hochfest Allerheiligen. Und das schon seit langer Zeit, wurde es doch bereits im Laufe der ersten nachchristlichen Jahrhunderte zunehmend schwierig, der vielen Heiligen an einem jeweils eigenen Festtag zu gedenken. Papst Gregor IV. legte im Jahr 835 das Fest Allerheiligen für die gesamte Westkirche auf den 1. November.
Mit vielen anderen kirchlichen Traditionen teilt Allerheiligen aber das Schicksal, dass sein Gehalt in unserer Zeit rätselhaft geworden ist. Die Vorstellung, es gebe eine enge Verbindung zwischen einer „triumphierenden Kirche“ (ecclesia triumphans) aller Menschen im Himmel mit den armen Seelen, die als büßende Kirche (ecclesia poenitens) im Fegefeuer versammelt sind, und uns Lebenden, die wir im Hier und Jetzt die mit der Sünde „kämpfenden Kirche“ (ecclesia militans) bilden, dürfte nur noch wenigen geläufig und sinnstiftend sein.
Die Wolke der Zeugen
Dabei hat der Gedanke etwas Tröstliches: Obwohl Christen durch den Tod auf natürliche Weise voneinander getrennt sind, gehören sie der einen Kirche an und bleiben auf geistige Weise miteinander verbunden. Im Hebräerbrief spricht Paulus von einer „Wolke der Zeugen“, die die Gläubigen umgebe. Selbst protestantische Theologen, die einer gefühlsduseligen Heiligenverehrung unverdächtig sein dürften, schätzen diese Wolke als Versammlung von Vorbildern, die uns ermutigen und bestärken, von denen wir lernen und an denen wir uns orientieren können. Aber worin bestärken sie uns? Wozu ermutigen sie uns? Was bezeugen sie und wohin weisen sie uns?
Der Apostel Paulus gibt im Hebräerbrief einen ersten Hinweis, wenn er schreibt: „Darum wollen auch wir, die wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, alle Last und die Sünde abwerfen, die uns so leicht umstrickt. Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt.“
In diesem Wettkampf treten wir nicht gegeneinander an, sondern sind gemeinsam unterwegs, alle umgeben von der Wolke der Zeugen, die uns vorausgegangen sind. Aber wohin sind wir unterwegs? Welches Ziel sollen wir erreichen?
Der Wunsch, ein Heiliger zu sein
Diese Frage stellte in den späten 1930er Jahren irgendwo in den Straßen von Manhattan auch der Student Robert Lax seinem Freund Thomas Merton, der gerade zum Katholizismus konvertiert war. „Was willst du nun, da du katholisch geworden bist, in deinem Leben werden, Thomas?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Merton und ergänzte etwas unschlüssig, er wolle einfach ein guter Katholik sein.
Da unterbrach ihn sein Freund Lax und erklärte: „Du solltest sagen, dass du ein Heiliger sein willst.“
Darauf Merton verblüfft: „Wie soll ich denn bitte ein Heiliger werden?“
„Indem du es willst“, antwortete Lax. „Alles, was nötig ist, um ein Heiliger zu sein, ist der Wunsch, einer zu sein. Glaubst du nicht, dass Gott dich zu dem machen wird, wozu er dich geschaffen hat, wenn du es ihm erlaubst? Alles, was du tun musst, ist, es zu wünschen.“
Diese Aussage seines Freundes hat Merton sehr beeindruckt und seinen weiteren Weg geprägt. Er wurde zu einem der großen spirituellen Denker und Schriftsteller unserer Zeit, und gilt manchem als Heiliger. Die Worte, die Lax zu Merton sagte, und die dieser in seiner Biografie „Der Berg der sieben Stufen“ festgehalten hat, klingen nach. Sie sprechen so einfach wie tiefgründig unser aller Berufung als Christen aus: Du sollst ein Heiliger sein.
Die unbekannten Heiligen
Paradoxerweise sind es wohl nicht zuletzt auch die vielen Heiligenlegenden, die Menschen davon abhalten, diesen Anspruch auf ihr eigenes Leben anzuwenden: Die Geschichten der Märtyrer, die für ihren Glauben einen qualvollen Tod sterben mussten, dürften nicht wenige verschreckt haben. Aber auch das Leben des heiligen Franziskus mit seinen vielen Entsagungen und Entbehrungen oder das stille Leiden der Therese von Lisieux sind wenig angetan, gewöhnliche Menschen für ein Leben in Heiligkeit zu motivieren. Heilige sind, so hat es sich im Bewusstsein auch vieler frommer Menschen eingeprägt, entrückte Gestalten – unerreichbar, rätselhaft, geeignet zur Verehrung, ja, aber nicht zur Nachahmung.
Aber es gibt unzählige Geschichten, die wir nicht kennen. Geschichten von Menschen, die ein gewöhnliches Leben geführt haben und deren Taten niemand festgehalten hat. Geschichten von Menschen, die im Alltag ihren Glauben gelebt und in kleinen Zeichen und Handlungen bezeugt haben. Wenn wir Allerheiligen feiern, dann feiern wir auch diese unbesungenen Heiligen, in der Überzeugung, dass sie genauso würdig sind wie die großen Gestalten der Glaubensgeschichte. Und wir erinnern uns dabei an den Anspruch an uns selbst: Wenn diese gewöhnlichen Menschen heilig sein können, können wir das nicht alle?
„Oh Lord I want to be in that number…“
Was muss man tun, um sich ihnen anzuschließen? Vor allem muss man sich wünschen, einer von ihnen zu werden. Wohl nirgendwo sonst ist dieser Wunsch so eindringlich festgehalten wie in dem alten Spiritual „When the Saints go marching in“, das Louis Armstrong zu einem weltweit beliebten Klassiker gemacht hat. Sein beschwingter Rhythmus und Armstrongs singende Trompete bieten den perfekten Sound für einen Feiertag, der uns alle angeht. Denn wir alle sollen heilig sein.
Bildnachweis
Fra Angelico (1423/24): Die Vorläufer Christi mit Heiligen und Märtyrern. Bild: Wikimedia, gemeinfrei
1. November 2021 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert