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Wir sind die Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund.

Wolfgang Borchert zum 100. Geburtstag

In unmittelbarer Nähe zum Hamburger Literaturhaus am Schwanenwik ist auf einem Monument dieses Zitat von Wolfgang Borchert zu lesen. Hamburg erinnerte im Frühsommer 2021 mit zahlreichen, meist digitalen Veranstaltungen an den bekannten Autor, der am 20. Mai 1921 im Stadtteil Eppendorf geboren wurde. Mit dem Werk „Draußen vor der Tür“, das einen Tag nach seinem Tod im November 1947 in den Hamburger Kammerspielen zur Uraufführung kommt, gilt Wolfgang Borchert als bekanntester Vertreter der „Trümmerliteratur“. Bereits einige Monate zuvor hat die Hörfunkfassung des Textes im Programm des NWDR (Vorgänger des NDR) für Aufsehen gesorgt. Das belegen die zahlreichen Briefe der Hörerinnen und Hörer, die heute im Wolfgang-Borchert-Archiv der Universität Hamburg lagern. Die Theaterfassung von „Draußen vor der Tür“ wurde seitdem in mehr als 180 Inszenierungen allein auf deutschen Bühnen gespielt.

Wolfgang Borchert beginnt 1939 eine Buchhändlerlehre, die er Ende 1940 abbricht. Danach nimmt er Schauspielunterricht und veröffentlicht seine ersten Gedichte im „Hamburger Anzeiger“. Im März 1941 erhält er ein Engagement als Schauspieler an der Lüneburger Wanderbühne. Aufgrund seines Kriegsdienstes muss Borchert bereits nach drei Monaten das Theater verlassen. Die kurze Zeit am Theater sei die Schönste seines Lebens gewesen, so sagt er.

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Wolfgang Borchert, 1940

Als Panzergrenadier kommt Wolfgang Borchert an die Front nach Smolensk. Der Verlust eines Fingers aufgrund einer Schussverletzung führt zu einem Gerichtsprozess. Der Vorwurf gegen ihn lautet: Selbst zugeführte Verletzung. Zwei weitere Prozesse wegen abfälliger Bemerkungen über das NS-Regime folgen. Wolfgang Borchert entgeht zwar der Todesstraße, bleibt aber während der Verfahren viele Monate in Haft. Im März 1945 besetzen amerikanische Truppen Frankfurt/M. Zu diesem Zeitpunkt gehört er der Jenaer Garnison an. Es kommt zum letzten Einsatz seiner Einheit. Während der Überführung in französische Gefangenschaft gelingt Wolfgang Borchert die Flucht. Zu Fuß schlägt er sich rund 660 Kilometer bis nach Hamburg durch. Erschöpft und schwerkrank kehrt er am 10. Mai 1945, zwei Tage nach Kriegsende, in sein Elternhaus zurück.

Zunächst ist er in der Hamburger Theaterszene aktiv und übernimmt eine Regieassistenz am Schauspielhaus. Doch seine Gesundheit ist so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass er im April 1946 nach einem mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt als unheilbar erkrankt entlassen wird. Der Verleger und Publizist Bernhard Meyer-Marwitz veröffentlicht zum Ende des gleichen Jahres den Gedichtband „Laterne, Nacht und Sterne. Gedichte um Hamburg“. Darin heißt es zu Beginn: „Ich möchte Leuchtturm sein in Nacht und Wind – für Dorsch und Stint – für jedes Boot – und bin doch selbst ein Schiff in Not!“

Meyer-Marwitz organisiert auch den ersten Leseabend Borcherts und bringt im Juni 1947 die Prosasammlung unter dem Titel „Die Hundeblume“ heraus. In der gleichnamigen Kurzgeschichte verarbeitet Borchert seine traumatischen Erfahrungen aus der Haft. Der Ich-Erzähler schildert in berührender Weise wie die Hundeblume (der Löwenzahn) während der kurzen täglichen Hofgänge für ihn so wichtig wird. Er will sie pflücken und mit in seine Zelle nehmen. Die kleine Blume ist für ihn ein Zeichen der Lebendigkeit und der Hoffnung. Borchert schreibt: „Immer wenn unser Rundgang zu Ende ging, musste ich mich gewaltsam von ihr losreißen, und ich hätte meine tägliche Brotration dafür gegeben, sie zu besitzen. Die Sehnsucht, etwas Lebendiges in der Zelle zu haben, wurde so mächtig in mir, dass die Blume, die schüchterne kleine Hundeblume, für mich bald den Wert eines Menschen, einer heimlichen Geliebten bekam: Ich konnte nicht mehr ohne sie leben – da oben zwischen den toten Wänden!“

Die Einsamkeit des Protagonisten, der Verlust von mitmenschlichen Empfinden, aber auch die bittere Ironie und der aggressive Sarkasmus zeichnen diese Kurzgeschichte und seine anderen Texte aus.

Wolfgang Borchert schreibt in seinem nachgelassenen Manifest: „Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heißer geschluchzten Gefühl. Für Semikolons haben wir keine Zeit. Denn wir sind Neinsager. Denn wir sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest. Unser Manifest ist die Liebe.“

Die letzten beiden Lebensjahre, so bemerkt die Historikerin Frauke Volkland, schreibt Wolfgang Borchert um sein Leben. Sein Vater tippt die handschriftlichen Texte auf der Schreibmaschine ab und bringt sie zu verschiedenen Hamburger Zeitungen. Der Verleger Ernst Rowohlt wird ähnlich wie Bernhard Meyer-Marwitz Borcherts Erzählungen und Kurzgeschichten veröffentlichen. Die sogenannten „Rotationsromane“ erscheinen, preiswerte Taschenbücher im Zeitungsformat hergestellt. Eine der bekanntesten Kurzgeschichten ist „Nachts schlafen die Ratten doch“, die von der Begegnung eines Jungen mit einem alten Mann in den Trümmern einer deutschen Stadt unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg erzählt.

Im September 1947 begibt sich Borchert auf seine letzte Reise. Ein Aufenthalt in einem Sanatorium in der Schweiz soll ihm Linderung verschaffen. Doch die strapaziöse Zugfahrt von Hamburg nach Basel schwächt ihn zusätzlich. Er wird in das St.-Clara-Spital in Basel eingeliefert. Dort stirbt Borchert am 20. November 1947.

Frauke Volkland berichtet in ihrem 2020 erschienenen Buch „Dies kostbar kurze Leben. Ein Borchert-Roman“ von den beiden letzten Monaten in Basel. Sie zeichnet darin das Bild eines Autors, der trotz aller grausamen Erfahrungen am Leben festhalten will und an seine Zukunft glaubt. Siegfried Lenz (1926 – 2014) merkt an, dass seine eigenen Kurzgeschichten durch die von Wolfgang Borchert geprägt sind. Und der Schauspieler Hans Quest, der in der Uraufführung die Rolle des Beckmanns in „Draußen vor der Tür“ spielt, erzählt: „Das Stück sei sein Schicksal gewesen“.


Plakat der Uraufführung von Draußen vor der Tür in den Hamburger Kammerspielen

Die Carl von Ossietzky Staats- und Universitätsbibliothek wird über das Jahr 2021 hinaus mit der gläsernen Borchert-Box, die den Titel „Dissonanzen“ trägt, an den Autor erinnern. Damit ehrt die Hansestadt Wolfgang Borchert gebührend, der mit der Aussage: „Hamburg! Das ist mehr als ein Haufen Steine“ eine tiefe Verbundenheit zu seiner Heimatstadt bekundet hat.

Empfohlene Literatur:

Frauke Volkland: Dies kostbar kurze Leben. Ein Borchert-Roman, Hamburg 2020

Empfohlene Links:

Dissonanzen – Wolfgang Borchert

Wolfgang Borchert: Pazifist, Träumer, Kämpfer

Wolfgang Borchert: Tragischer Held der Trümmerliteratur

Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Borchert

Bilder:

  1. Quelle: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons
  2. https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8565348, gemeinfrei

6. November 2021 || ein Beitrag von Edith Dietzler-Isenberg, Konrektorin i. R. an einer Grundschule

Vom 28. August bis 3. September 2022 (So.-Sa.) leitet Edith Dietzler-Isenberg die Ferienakademie Literarische Spurensuche. Von Berlin in die Mark Brandenburg.