Worin unsere Stärke besteht

Der 1. Mai steht vor der Tür, und pandemiebedingt werden die gewerkschaftlichen Maifeierlichkeiten ein zweites Mal digital stattfinden müssen. So wird das Hohelied der Solidarität nicht auf den Marktplätzen der Republik erklingen, sondern im virtuellen Raum des Internets. Aber um Solidarität wird es gehen, denn „Solidarität ist Zukunft“ – so das diesjährige Motto der Gewerkschaften. Der DGB stellt dazu gleich am Anfang seines Aufrufs fest: „Wenn wir in den langen Monaten der Pandemie eines gelernt haben, dann das:  Niemand bewältigt diese Krise allein. Nur als Wir, nur wenn wir gemeinsam handeln, finden wir den Weg in eine gute Zukunft.“

Ganz ähnlich drückt es Papst Franziskus in seiner jüngsten Sozialenzyklika Fratelli tutti aus. Die Erfahrung der Corona-Zeit habe „wirklich das Bewusstsein geweckt, eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden gereicht. Wir haben uns daran erinnert, dass keiner sich allein retten kann, dass man nur Hilfe erfährt, wo andere zugegen sind“ (FT 32). Insgesamt 21 Mal findet sich das Wort „Solidarität“ im Text der Enzyklika. In der Mitte des Dokuments bietet der Papst eine interessante Definition des Begriffs: Solidarität bedeute, „dass man im Sinne der Gemeinschaft denkt und handelt, dass man dem Leben aller Vorrang einräumt – und nicht der Aneignung der Güter durch einige wenige. Es bedeutet auch, dass man gegen die strukturellen Ursachen der Armut kämpft […]“ (FT 116).

Wer sich solidarisch verhält, setzt sich demnach zweifach in Beziehung: Da ist zum einen die Person oder Gruppe, mit der Solidarität geübt wird. Ihrem Wohl wird Vorrang eingeräumt vor den materiellen Eigeninteressen, die man aus einer Position der Stärke heraus verfolgen könnte. Solidarität bedeutet also Verzicht zugunsten der Lebensinteressen anderer Menschen. So besehen ist Solidarität ausschließlich positiv und inklusiv. Aber da ist noch ein zweiter Bezugspunkt: Man verhält sich solidarisch gegen etwas. Solidarität bedeutet nicht nur: Ressourcen teilen, großzügig sein, zugunsten anderer zurückstehen. Solidarität meint auch: in einen Kampf einzutreten, den zu kämpfen nicht das eigene Wohlergehen erforderlich macht. Wer solidarisch ist, begibt sich in Konflikte, denen er aus dem Wege gehen könnte. So gesehen ist Solidarität abgrenzend, exklusiv. Es gibt nicht nur den Mitmenschen, an dessen Seite ich mich stelle, sondern auch eine soziale Wirklichkeit, der ich mich entgegenstelle. Man vertue sich nicht: Was der Papst als „strukturelle Ursachen“ bezeichnet, ist keineswegs losgelöst von menschlichen Interessen. Auf der anderen Seite stehen also wiederum letztlich Menschen, mit denen man sich nun in einen Konflikt begibt.

In der Geschichte des Christentums gibt es zahlreiche Menschen, die sich aus Solidarität in solche Konflikte begeben haben. Exemplarisch seien hier nur drei genannt: Óscar Romero hätte als Erzbischof von San Salvador ein bequemes Leben führen können. Seine Solidarität mit den Armen bezahlte er mit dem Leben. Dorothy Day hätte als erfolgreiche Autorin und Journalistin auf der Sonnenseite des Lebens stehen können. Stattdessen lebte sie in freiwilliger Armut, saß im Gefängnis und ließ Anfeindungen über sich ergehen. Sophie Scholl hatte als junge Studentin ein Leben in den besseren Kreisen vor sich. Sie leistete gemeinsam mit ihrem Bruder und einigen Freunden Widerstand gegen den Nationalsozialismus und wurde im Alter von nur 21 Jahren hingerichtet.

Diese Beispiele werfen ein interessantes Licht auf eines der zentralen Prinzipien der katholischen Soziallehre, das deren Nestor, Oswald von Nell-Breuning, sogar in den Rang eines „Baugesetzes“ menschlicher Gemeinschaft erhoben hat. Das Solidaritätsprinzip ist hier verschränkt mit dem Subsidiaritätsprinzip, das gerade die Autonomie gegenüber regulierenden Eingriffen stärken soll. Alles erscheint harmonisch geordnet und gefügt: Die Personalität bildet die Grundlage, auf der die beiden Säulen Solidarität und Subsidiarität stehen, die wiederum das Gemeinwohl als Dach des gesellschaftlichen Hauses tragen. Immer wieder ist diese Harmonie des Gesellschaftsbildes als wesentliches Merkmal der katholischen Soziallehre betont worden, gerade auch in scharfer Abgrenzung zum marxistischen Denken, dem die Geschichte bekanntlich eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Unmissverständlich macht das Kompendium der Soziallehre der Kirche diesen Anspruch deutlich: „Die Soziallehre zeichnet die Wege vor, die gegangen werden müssen, um eine in der Gerechtigkeit und in der Liebe versöhnte und harmonische Gesellschaft zu verwirklichen.“

Der Solidaritätsbegriff von Papst Franziskus scheint dem nicht recht zu entsprechen. Vielleicht macht er aber deutlich, dass die Realität menschlicher Gesellschaften selten den Idealen der katholischen Soziallehre entspricht. Die „Wege, die gegangen werden müssen“, sind nicht selbst schon versöhnt und harmonisch, sondern gekennzeichnet von Interessengegensätzen und Auseinandersetzungen. Diese mögen unter den Bedingungen einer freiheitlichen Demokratie und einer sozialen Marktwirtschaft auf friedlichere Weise ausgeglichen werden als in autoritären Gesellschaften und unter ungeregelten Marktbedingungen. Aber der soziale Friede ist auch unter vorteilhaften Rahmenbedingungen nie dauerhaft garantiert, sondern immer wieder Ergebnis politischer Prozesse. Erst recht gilt dies auf der Ebene der Weltgesellschaft, die kaum politische Strukturen des Ausgleichs kennt. Die Solidarität mit den Schwachen, Benachteiligten und Unterdrückten und der Kampf gegen die strukturellen Ursachen von Armut, Ungleichheit und Unterdrückung bleiben uns jenseits aller Klassenkampfrhetorik aufgegeben. In dieser Solidarität besteht nicht nur die Stärke der Arbeiterbewegung, wie es Bertolt Brechts „Solidaritätslied“ besingt, sondern auch die der katholischen Soziallehre.

Am Donnerstag, 6. Mai 2021, lädt die Thomas-Morus-Akademie zusammen mit dem DGB Region Düsseldorf-Bergisch Land und der KAB Stadtverband Düsseldorf zum Online-Akademieabend „Arbeit in der Krise – Solidarität im Härtetest? Was die Gesellschaft durch die aktuellen Herausforderungen trägt“ ein. Die Teilnahme ist kostenlos. Anmeldungen nehmen wir gerne über unsere Internetseite entgegen. Herzliche Einladung!

Bild:
Terence Faircloth auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

29. April 2021 || von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert