Schulmediation im Jahr 2020
Wie wirken sich gesellschaftliche Veränderungen und das Coronavirus auf die Mediation in unseren Schulen aus?
Seit fast 25 Jahren beschäftigen sich die Schulmediator*innen des Bensberger Mediations-Modells mit dem Konzept der Mediation. Dabei spüren die Trainerinnen und Trainer schon seit Längerem schleichende Veränderungen, die in Zeiten der Corona-Pandemie offensichtlicher werden und das mediative Handeln vor neue Herausforderungen stellen.
Vor zwanzig Jahren waren die Grenzen der Mediation ein klar definiertes Phänomen, aber quantitativ nicht von großer Tragweite. Einzelne Schüler*innen konnten sich aus Gründen, die in ihrer Persönlichkeitsstruktur lagen oder aber in der Art und Weise ihrer Sozialisation, nicht auf eine Mediation einlassen. Für die überwiegende Mehrheit der Schüler*innen galt jedoch: Mediatives Handeln ist erlernbar, präventiv und interventiv. Dies war der Beginn einer Erfolgsgeschichte der Schulmediation, bei der das Bensberger Mediations-Modell BMM mit seinem ganzheitlichen Ansatz, seinen didaktischen und methodischen Impulsen eine wichtige Rolle spielte.
Auch auf das Problem des „Mobbing“ – erwachsen aus dem Alltag in den Schulen – haben wir mit dem mediationsnahen Ansatz des No-Blame-Approachs eine sehr erfolgreiche mediative Antwort gefunden.
Aber mit der Verbreitung der sozialen Medien rückte an Stelle des realen Mobbing immer mehr das Cybermobbing, ein Phänomen, das bis heute immer mehr Raum und Zeit beansprucht und ohne eine konsequente „Anti-Haltung“ nicht beherrschbar ist.
Reales Mobbing kann man stoppen, indem man ihm die „Bühne“ in der sozialen Gruppe entzieht. Cybermobbing hat aber die riesige Bühne des World- Wide Web. Hier helfen Verbote nur begrenzt, weil das Netz Anonymität schützt. Jeder kann absondern, was er will, ohne Strafe fürchten zu müssen. Und wenn er einmal erwischt wird, ist der Rechtsstaat äußerst träge im Umsetzen der Gesetze. Wie war das noch mit Hase und Igel im Märchen?
Welche unheilvolle Rolle das Internet spielen kann, wird uns momentan tagtäglich im Kontext Kinderpornographie vor Augen geführt. Ein damit befasster Polizeibeamter im Innenministerium NRW vergleicht das Internet mit einem Katalysator (Aachener Zeitung 20.7.2020). Diese katalytische Wirkung des Internets zeigt sich auch bei Cybermobbing. Es gibt dagegen aber ein sehr gutes Instrument: Prävention. Wir können versuchen, Cybermobbing erst gar nicht entstehen zu lassen.
Das Erlernen eines respektvollen Umgangs miteinander beginnt schon im Elternhaus und wird fortgeführt in Kita und Schule. Hier gibt es Projekte zum sozialen Lernen, zur Bildung von produktiven sozialen Gruppen und Klassengemeinschaften, Klassentrainings zum „Anders streiten lernen“, Werteerziehung… Die Liste lässt sich noch beliebig ergänzen.
Damit diese Maßnahmen aber gelingen können, müssen möglichst viele Menschen in den pädagogischen Systemen die gleiche Sprache sprechen. Die Sprache des Respekts, des Dialogs… der Menschlichkeit und nicht der Macht. Wie das funktionieren kann, hat die Schriftstellerin Susanne Kerkhoff bereits 1947 in ihren „Berliner Briefen“ formuliert.
„… ein Verstehen ohne Herablassung! Ein Beweis, dass es Brücken zwischen den Menschen gibt, wenn sie Brücken bauen wollen! Wollen sie immer? Nein. Können sie immer? Auch das ist fraglich, weil das Brückenbauen etwas voraussetzt, ein Hineingehen in andere Welt, in eine andere Psyche, wozu vielleicht nur Freundschaft befähigt ist, die über die Voraussetzungen der inneren und äußeren Umwelt hinauskann.“ (S.87)
Die Mehrzahl der Eltern, Erzieher*innen und Lehrer*innen erweisen unseren Kindern, die ja die Gestalter unser aller Zukunft sind, diesen Freundschaftsdienst.
Aber der Einfluss der sozialen Medien geht weit über das Phänomen Cybermobbing hinaus: Unser Tagesrhythmus hat sich verändert. Von morgens in der Früh bis zum Abend geht unser Blick in Facebook, Twitter, Instagram… was machen unsere „Freunde“? Wir wollen in Kontakt bleiben, auf dem Laufenden. Das alles kostet Zeit und Energie. Aber auch Freundschaften werden „neu definiert“, „gepflegt“.
Ein zweiter Parameter, der sich stark verändert hat, sind die Einstellungen der Eltern. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich klage nicht darüber, dass die Eltern immer „schwieriger“ werden, sondern glaube fest daran, dass die heutige Elterngeneration wie auch ihre Eltern und Großeltern von der Sorge um das Wohlergehen ihrer Kinder angetrieben wird. Während aber frühere Elterngenerationen in feste familiäre Strukturen hineingeboren wurden, und gesellschaftliche Muster klar definiert waren (was sicherlich nicht immer leicht war), scheint heute die „absolute Freiheit“ in der Erziehung Fluch und Segen zugleich zu sein. Wer heute Erziehung ernst nimmt, steht vor einer Herkulesaufgabe. Hinzu kommt, dass die Generation der Großeltern gelernt hat: „Ratschläge sind Schläge!“ An ihre Stelle treten heute „gutmeinende Freunde“ und die Ratgeber aus dem Internet.
Hin- und Hergerissen zwischen den vielen „Meinungen“ eine Entscheidung treffen zu müssen, ist nicht leicht. Ich verstehe daher junge Eltern, die sich in ihrer Not hilfesuchend an Lehrer*innen wenden. Sie suchen das gemeinsame Gespräch, um gemeinsam Lösungswege für ein Problem zu finden. Soll das gelingen, geht es wieder um die „mediative Haltung“, um gegenseitigen Respekt, Offenheit und Dialogbereitschaft – diesmal der Erwachsenen, die ja Vorbilder der Kinder sind.
Leider kann aus einem möglichen lösungsorientierten Dialog zwischen Eltern und Erziehern ein destruktiver Disput werden, wenn sich Eltern und Lehrer*innen als Kontrahenten sehen und nicht als Konfliktpartner, wenn es um Macht, um Rechtbehalten und Gewinnen geht. Aber wo es einen Gewinner gibt, gibt es auch leider immer einen „Verlierer“. Oft ist es das Kind.
Und dann kommt in diesem Jahr auch noch das Coronavirus dazu.
„Corona“ hat unser öffentliches Leben, aber auch unser soziales Leben verändert. Es geht nicht nur um die Angst vor Ansteckung, um Abstandsgebot und Maske. Es geht um viel mehr.
Der „Lockdown“ hat vor allem den Familien vieles abverlangt: Homeoffice, Homeschooling, dazu die alltägliche Versorgung organisieren, Einkaufen, Essen kochen … wo die Unterstützung von Schule und Kita fehlen. Viele Familien hat das an ihre Grenzen gebracht. Und trotzdem haben viele Mütter, Väter und Kinder neue Chancen entdeckt. Ein junger Vater berichtete mir, wie dankbar er trotz allem sei, so viel Zeit gemeinsam mit seinen Kindern verbringen zu dürfen. Junge Familien entdeckten gemeinsam die Natur in ihrem städtischen Umfeld: Da war Omas kleines Wochenendhaus in der Eifel auf einmal angesagt, solange der Internetempfang mitspielte. Da sorgen sich aber auch Kinder und Eltern um die Großeltern. Sie sollen geschützt, aber nicht ausgegrenzt werden. Kreativ entdeckt man neue Wege des Umgangs miteinander. Erlebt gar die Familie als soziale Gruppe so etwas wie eine Renaissance? Wenn das keine Chance ist…
Ist hier nicht das zu spüren, was der Bildungswissenschaftler Klaus Hurrelmann in seinem magischen Dreieck der Erziehung als „Herzenswärme“ bezeichnet und was neben Freiräumen und klaren Regeln so unerlässlich ist für eine gelingende Erziehung ist? (Hurrelmann/Unverzagt: Kinder stark machen für das Leben)
In Zeiten von Corona erübrigen sich auch viele leidige Diskussionen über Regeln: „Abstand halten, Hände waschen, Desinfizieren, Masken tragen“, diese Regeln sind uns und unseren Schüler*innen in Fleisch und Blut übergegangen, weil sie uns lebenswichtig erscheinen.
Wie ein Bogen spannt sich über all dies die Ungewissheit, wie es weitergehen soll mit dem Virus. Verständlich, dass wir Halt suchen. Die einen suchen und finden ihn bei „seriösen“ Wissenschaftler*innen, die aber auch klar bekennen, dass ihr Wissen sehr begrenzt ist. Das ist für viele schwer auszuhalten. Andere vertrauen den Politikern, die aber auf den Rat der Fachleute angewiesen sind. Wieder andere hängen „Verschwörungsmythen“ an, die in solchen Zeiten Konjunktur und leichtes Spiel haben.
Es ist Zeit, klar Position zu beziehen. Als Naturwissenschaftlerin vertraue ich den Wissenschaftler*innen und glaube fest an die Stimme der Vernunft in uns allen. Dennoch wünsche ich mir, dass die Menschen der unterschiedlichen „Lager“ einander mit Respekt behandeln, andere Meinungen gelten lassen, ohne sie zu verhöhnen, mit dem anderen in einen echten Dialog eintreten, ohne zu „missionieren“.
Wir sitzen alle in einem Boot, und nur gemeinsam kommen wir heil an Land. Wenn wir dies erkennen, verinnerlichen, danach handeln, dann kann uns gelingen, in und mit der Pandemie zu leben und hoffentlich gestärkt aus ihr hervorzugehen.
Mediatives Handeln ist hier mehr gefordert denn je.
Weitere Informationen und Angebote zum Bensberger Mediations-Modell finden Sie hier.
2. September 2020 || ein Beitrag von Elisabeth Mölders, Mediatorin BM, Trainerin BMM