Igor Levit – Mensch, Bürger, Europäer, Pianist
Pianisten sollen vor allem hervorragend Musik interpretieren, der Mensch dahinter spielt keine Rolle – dieser typischen Erwartungshaltung verweigert sich der dieser Tage gefeierte Igor Levit auf unnachahmliche Weise. Beim Aufruf seiner Webseite schon eine erste Überraschung: Die Besucherin oder der Besucher wird von den Worten „Bürger“, „Europäer“, „Pianist“ empfangen – was für eine Selbstbeschreibung, was für ein Anspruch an sich selbst wie auch an ein Publikum, das überhaupt nicht mehr gewohnt ist, Musik (auch) als starke politische Botschaft zu begreifen!
Weil Igor Levit gerade die Konzertbühnen der Welt verschlossen sind, aber die politisch denkende Künstlerseele auf die Bühne drängt, sendet er jeden Abend aus seinem Wohnzimmer ein kleines Hauskonzert: Sehr empfehlenswert und hier aufzurufen: https://twitter.com/igorpianist .
Mensch, Bürger, Europäer, Pianist zu sein – mit dieser Selbstbezeichnung des 33-jährigen deutsch-russischen Pianisten kann es nicht verwundern, dass er vor allem den seinerseits eminent politisch denkenden Ludwig van Beethoven über alles schätzt und gerade mit der Gesamteinspielung der Sonaten des aus Bonn stammenden Komponisten sowohl die Kritiker als auch alle anderen Hörenden zu wahren Jubelstürmen hingerissen hat. Und fürwahr: Die Sonaten sind grandios und geradezu mitreißend interpretiert. Man höre sich nur den 1. Satz der Waldsteinsonate an, wie es Levit hier schafft, spielerische Akkuratesse auf höchstem technischem Niveau mit klangbildender Dynamik zu verbinden. Zumindest den Autor dieser Zeilen hat es nicht mehr im Sessel gehalten. Und es dürfte kaum eine bessere Beschäftigung in diesen Zeiten geben, als dem filigranen Spiel Levits zu lauschen!
Im Beethoven-Jahr 2020 zeigt damit Igor Levit so überzeugend wie kaum ein anderer Kunstschaffender, dass Beethovens Musik keineswegs als bloßes Resultat einer längst vergangenen musikalischen Epochen interpretiert und gehört werden sollte, sondern dass sie auch uns heutigen Menschen sehr viel über uns und unsere Sehnsucht nach Freiheit, nach Autonomie und Würde mitteilen kann, wenn wir ihr nur mit offenen Ohren begegnen.
4. April 2020 || empfohlen von Dr. Michael Hartlieb, Akademiereferent Theologie und Philosophie