„Das letzte Hemd weggeben“- das Märchen von den Sterntalern und seine Varianten bei Georg Büchner und Thomas Mann
Am Ende gehen zumindest die meisten Märchen gut aus. Das finale Märchenglück hat viele Gesichter und kann auf unterschiedliche Weisen verwirklicht werden, so dass der Märchenerzähler als Lebenswegweiser erscheint.
Wenn das Märchen zudem legendenhafte Züge trägt wie das ‚Sternthaler‘-Märchen, dass die Brüder Grimm 1819 in ihre Märchensammlung der ‚Kinder- und Hausmärchen‘ aufnahmen, dann folgt aus ihm auch oft eine erbauliche Lehre für die Leserschaft. In diesem Fall ist sie dezidiert christlich. Aber entspricht es wirklich dem Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, wenn jemand, etwa ein armes Kind, sein letztes Hemd weggibt und zuletzt schutzlos und nackt dasteht?
Zunächst einmal handelt das Märchen von einer zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ganz alltäglichen Situation. Es ist die Zeit vor der medizinischen Revolution, die mit Namen wie Robert Koch und Paul Ehrlich am Ende des Jahrhunderts für eine merklich gesunkene Sterblichkeit sorgen wird. Zum besagten Zeitpunkt ist es indes noch nicht ungewöhnlich, dass „ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben,“ durch die Lande zieht. Vor der Sozialversicherung Bismarcks ist es auch „so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und gar nichts mehr, als die Kleider, die es auf dem Leib trug und ein Stückchen Brot, das es in der Hand hielt und das ihm ein mitleidiges Herz noch geschenkt hatte.“ Gewichtig ist auch in der Zeit der Romantik vor der Etablierung der marxistischen Arbeiterbewegung oder eines bürgerlichen Agnostizismus, dass besagtes Mädchen „aber gar gut und fromm“ war. Und so geht „es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld“. Wenn dem Kind da „ein armer Mann“ begegnet, der spricht: „ach, gib mir doch etwas zu essen, ich bin so hungrig.“, dann reicht das fromme Wesen „ihm das ganze Stückchen Brot und sagt []: „Gott segne dirs!“. Dann kommt bekanntlich ein Kind, das jammert und spricht: „es friert mich so an meinem Kopf, schenk mir doch etwas, womit ich ihn bedecken kann!“ Dann wird die Mütze abgegeben und in Folge einem anderen frierenden Bettelkind das Leibchen. Es folgt das Röcklein und endlich im Wald das „Hemdlein“. Schließlich „war schon dunkel geworden“. Denn „das fromme Mädchen“ denkt: „es ist dunkle Nacht, da kannst du wohl dein Hemd weggeben“. Das wundersame Ende des Märchens bringt dann eine dramatische Schicksalswende im himmlischen Märchenglück:
„Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte, blanke Thaler, und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Thaler hinein und ward reich für sein Lebtag.“
Gretel muss erst die Hexe in den Backofen schubsen, damit sie und ihr Bruder Hänsel mit Schätzen belohnt werden. Im Sterntaler-Märchen geht es indes nicht um kindliche Selbstbehauptung und –verteidigung. Im Gegenteil: Die kindliche Heldin schützt sich nicht, sie macht sich vielmehr schutzlos, um von metaphysischen Mächten materielle Belohnung zu erfahren.
Dass diese Märchenwelt von politisch geschulten Köpfen in der auf die Romantik folgenden Vormärz-Epoche vor der Märzrevolution von 1848 kritisch beleuchtet wurde, kann eigentlich nicht verwundern. Schließlich gehen Schutzlosigkeit und existenzielle Gefährdung bei den Schwachen der Gesellschaft Hand in Hand und eine Garantie auf Sterntaler hat sich noch niemand erarbeiten können, schon gar nicht durch Freigiebigkeit aus reiner Nächstenliebe. So kann es nicht verwundern, dass Georg Büchner in seinem Drama ‚Woyzeck‘ (um 1836) eine eigene Version des Sterntalermärchens vorlegt. In jenem Avantgarde-Stück, das erst Jahrzehnte nach dem Tod des Dramatikers von Karl Emil Franzos 1878 entdeckt, noch später 1913 auf der Bühne aufgeführt, dann aber im weiteren 20. Jahrhundert von Alban Berg sogar in eine bekannte Opernversion verwandelt wurde. In dem in ‚Woyzeck‘ von einer Großmutter erzählten Anti-Märchen verwandelt sich das legendäre Märchenglück in das tiefe, ja ausweglose Unglück der sozial benachteiligten Unterschicht, in puren Nihilismus:
„Es war einmal ein arm Kind und hatt‘ kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es is hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum. Und wie’s zu den Sternen kam, waren’s kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie’s wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.“
Die traditionelle Sinnstiftung der Heiligenlegende sowie des von ihr abgeleiteten legendenartigen Märchens verwandelt sich hier nicht allein in Unsinn, sondern in eine tränenreiche Verzweiflung auslösende Sinnlosigkeit. Die Menschen können nicht mehr von einem höheren Wesen im Himmel erlöst werden. Der implizite Appellcharakter des Textes richtet sich auf gesellschaftliche Veränderung, auf die nicht allein die marxistische Arbeiterbewegung, sondern späterhin auch die katholische Soziallehre abzielte.
Doch Schutzlosigkeit in nackter Blöße bedeutet nicht allein Erfrierungs- und Hungergefahr. Sie hat gerade bei schwachen weiblichen Wesen auch eine sexuelle Komponente, birgt eine Gefahr des Missbrauchs männlicher Macht. Dies wird in Thomas Manns an die phantastischen Geschichten E. T. A. Hoffmanns erinnernder früher alptraumhafter Novelle ‚Der Kleiderschrank‘ von 1899 deutlich. Hier sitzt das unwirkliche nackte Mädchen nicht allein im Wald, sondern im Kleiderschrank eines spartanischen Fremdenzimmers, wo es dem in jeder Hinsicht kranken Reisenden Albrecht van der Qualen nächtens traurige Märchengeschichten zu erzählen weiß.
„Sie erzählte ihm… es waren traurige Geschichten, ohne Trost; aber sie legten sich als süße Last auf das Herz und ließen es langsamer und seliger schlagen. Oftmals vergaß er sich…Sein Blut wallte auf in ihm, er streckte die Hände nach ihr aus, und sie wehrte ihm nicht. Aber er fand sie dann mehrere Abende nicht im Schranke, und wenn sie wiederkehrte, so erzählte sie doch mehrere Abende nichts und begann dann langsam wieder, bis er sich abermals vergaß.“
Kindliche Nacktheit birgt also mancherlei existenzielle Gefahren. Die soziale Not wird durch sexuelle Notdurft unverantwortlicher Männer noch bedrohlich gesteigert. Die Frage, die sich aus allen drei Texten des langen 19. Jahrhunderts ergibt, ist, ob es sinnvoll, ja ob es überhaupt christlich ist, buchstäblich das letzte Hemd wegzugeben.
Schlussendlich, wenn man die Nächsten so sehr liebt wie sich selbst, dann ist es vermutlich in jeder Hinsicht vertretbarer, dem Heiligen Martin zu folgen und seinen Mantel zu teilen, anstatt gänzlich auf ihn zu verzichten…
4. bis 5. Februar 2023 (Sa.-So.)
Utopien ihrer Zeit: Literarische Kindheitsentwürfe
Vom Struwwelpeter bis Pippi Langstrumpf
Akademietagung in Bensberg
Wie sehr das Bild von Kindheit eingebunden und eingebettet ist in die Ideen seiner Zeit, lässt sich an der Kinderbuchliteratur durch die Jahrhunderte verfolgen. Wie ein Brennglas machen „Des Knaben Wunderhorn“, Grimms Märchen, der Struwwelpeter, Pippi Langstrumpf oder Erich Kästners kleine Helden gesellschaftliche Realitäten und pädagogische Konzepte am literarischen Gegenentwurf sichtbar – bis in unsere Gegenwart hinein.
PD Dr. Rolf Füllmann ist einer der Referenten an diesem Wochenende:
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25. Januar 2023 || ein Beitrag von PD Dr. Rolf Füllmann, Privatdozent und Lehrkraft für besondere Aufgaben, Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln