Den Tag ausklingen lassen mit Hannah Arendt in New York
Gerne würde ich mit der Denkerin Hannah Arendt (1906-1975) in New York eine Margarita trinken! Mit Rücksicht auf ihre Lust an der Zigarette käme eine Rooftop-Bar in Frage, in der das Rauchen noch erlaubt ist, ansonsten liefe es wohl auf eine Cigar Lounge in einem kultivierten Hotel hinaus. Sie würde sich vermutlich einen Whiskey bestellen – wenngleich behauptet wird, dass sie am liebsten Campari trank. Das Interieur der Bar sollte klassisch-edel sein, denn im Umfeld von Kitsch und Schnickschnack würde Arendts Stimmung schnell kippen und der Abend wäre gelaufen…
Eine der vorrangigen Fragen, die ich ihr stellen würde, wäre, wie sie es denn nun hielte mit dem, was wir im landläufigen Sinne „Freundschaft“ nennen. Arendt hat zum Begriff zwar einiges geschrieben, aber ihr Verständnis von Freundschaft lehnt sich an die griechische „philía“, die eine spezifische Bedeutung hat.
Um in der Bar nicht unangenehm aufzufallen, würde ich nur eines ihrer Bücher mitgebracht haben, aus dem ich Frau Arendt ihre eigenen Textstellen vorlesen würde, nämlich den „Sokrates“. Er beruht auf einem 1954 gehaltenen Vortrag an der Universität von Notre-Dame zum Thema „Philosophie und Politik. Das Handeln und Denken nach der Französischen Revolution“ (Sokrates. Apologie der Pluralität, Berlin 2016). Ich würde aus dem Vortrag einige Sätze zitieren: „Sokrates versuchte, aus den Bürgern Athens Freunde zu machen“ – Arendt würde vermutlich in Ahnung, was kommen würde, leicht entnervt mit dem Gesicht zucken und einen Zug aus der Zigarette nehmen – um sie dann meinerseits nochmals zu zitieren: „Aristoteles erläutert, dass ein Gemeinwesen nicht vornherein aus Gleichen besteht, sondern im Gegenteil aus Menschen, die verschieden und ungleich sind. Das eigentliche Gemeinwesen bildet sich durch ‚Angleichung‘ (isasthēnai), heraus.“ (Kurz zuvor hat Arendt mich belehrt, dass ein großer Teil der politischen Philosophie des Aristoteles letztlich auf Sokrates zurückgeht.) Arendt würde die Stirn runzeln und zu den gesalzenen Nüssen greifen, die man zu unseren Drinks gereicht hat und mich fragend anschauen, um in Erfahrung zu bringen, worauf ich wohl hinauswolle. Ich zitiere weiter und bringe mein Anliegen damit auf den Punkt: „Die politische, nichtökonomische Form der Gleichung aber ist die Freundschaft, philia.“ Und weiter – als ob dies nicht genug sei: „Dass Aristoteles Freundschaft analog zu Bedarf und Tausch sieht, hängt mit dem wesentlich materialistischen Charakter seiner politischen Philosophie zusammen, das heißt: mit seiner Überzeugung, dass man Politik letztendlich braucht, weil die Menschen sich von den Notwendigkeiten des Lebens emanzipieren wollen.“ Ein weiteres Zucken im Gesicht, ein weiterer Griff zu den Nüssen und der fragende Blick, warum ich sie damit eigentlich behellige, da sie ihre Texte ja schließlich gut genug kenne, und sie ihr nicht vorgelesen werden müssen. Und dann mein alles entscheidendes Zitat: „Das politische Element der Freundschaft liegt darin, dass in einem wahrhaftigen Dialog jeder der Freunde die Wahrheit begreifen kann, die in der Meinung des anderen liegt.“
Und schließlich: „Diese Art von Verständnis – die Fähigkeit, die Dinge vom Standpunkt des anderen aus zu sehen, wie wir es gerne ein wenig trivial formulieren – ist die politische Einsicht par excellence.“ Ein erstaunter Blick Arendts, ein wenig herablassend vielleicht, der andeutet, dass ihr nicht klar ist, warum ich ihr all das vorlese und meine Conclusio, dass ich ihr ewig dankbar bin dafür, mir die Kurzformel von Freundschaft – jenseits des vielfältigen kitschigen Geredes über dieselbe – so nachhaltig gereicht zu haben. Noch vielmehr, in Anlehnung an die alten Griechen kultivierte sie mir die im Alltagsgeschäft so verpönte politische Freundschaft.
Wenn’s weiter nichts ist, wird sie sagen und ich werde denken: Über Freundschaft, zumal politische Freundschaft, sollte ich mal mit Angela Merkel sprechen dürfen, in einer unkomplizierten Berliner Eckkneipe bei Kartoffelsuppe und Brot…
15. August 2021 || ein Beitrag von Prof. Dr. Thomas Eggensperger OP, Professor für Sozialethik und Christliche Sozialwissenschaften an der Philosophisch-Theologische Hochschule Münster
Den Tag ausklingen lassen mit…
Mit Jesus über Gott und die Welt reden, mit Mahatma Gandhi über zivilen Ungehorsam debattieren, mit Jean-Paul Sartre philosophieren, mit Yoko Ono und Banksy über Kunst, mit Michelle Obama über Gerechtigkeit sprechen… bei einem Glas Wein oder einem Drink.
Es gibt unzählige Menschen, denen werden wir nie begegnen, die uns jedoch sehr faszinieren und mit denen wir uns gerne einmal austauschen möchten. Welche Fragen würden wir ihnen stellen? Welche Antworten würden sie geben? Was genau fasziniert uns an ihnen?
In unserer neuen Sommer-Reihe haben wir Personen, mit denen die Akademie verbunden ist, gefragt, mit wem sie gerne einmal den Tag mit einem Sundowner ausklingen lassen möchten.
Übrigens soll der Sundowner von der britischen Marine erfunden worden sein. Mit diesem Ritual sollte ein Austausch unter der Mannschaft stattfinden. Austausch, Gemeinschaft, Begegnung… danach sehnen auch wir uns.