„Eine ganze Generation verloren“
Der Konflikt um die Ukraine geht nun bereits in den neunten Monat. Ein Waffenstillstand, eine Befriedung oder gar ein Ende des Krieges sind nicht in Sicht. Beide Seiten halten an ihren Positionen fest, ungeachtet des drohenden Winters mit Kälte, Frost, Not, Mangel und Leid.
Unabhängige Berichte rund um die Auseinandersetzung sind rar. Umso wertvoller ist die persönliche Anschauung zumindest aus nächster Nähe, dem polnischen Grenzgebiet zur Ukraine.
Dr. Markus Ingenlath, Mitglied der Geschäftsführung von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, war vom 13. bis 16.10.2022 im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet, in der Stadt Przemysl. Hier der erste Teil seines Berichtes, den wir am 8. November fortsetzen.
Renovabis und ZdK verschaffen sich Überblick über Flüchtlingshilfe in Polen (13.-16.10.2022)
Auf Initiative des Sachbereichs „Europa und Migration“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) hat eine kleine Delegation zwei Tage lang Przemysl im äußersten Südosten Polens besucht. Ziel des Besuches war es, einen Überblick über die dort und in ganz Polen geleistete Hilfe von kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Seite zu erhalten, Kontakte zu knüpfen und ein Zeichen der Solidarität aus Deutschland zu setzen.
In der 64.000 Einwohner zählenden Stadt Przemysl (sprich „Pschemyschl“) kamen in den ersten Wochen der russischen Kriegseskalation täglich 16.000 Menschen aus der Ukraine an, bevor sie zu Zielen in ganz Europa weiterreisten. Der größte Ansturm liegt zwar schon etwas zurück, aber seit Russland am 10. Oktober und in den folgenden Tagen gezielt begann, gezielt zivile Infrastruktur zu zerstören und es täglich im ganzen Land Luftalarm gibt, steigt die Zahl der in Polen Schutz Suchenden wieder. Przemysl, das nur ca. 20 km von der ukrainischen Grenze entfernt ist, scheint eine Art Seismograph für die Europäische Union zu sein – hier merkt man ziemlich schnell, wann die Not wieder größer wird.
Kommunen als erste Anlaufstelle
Der Bürgermeister berichtet, dass zurzeit die Vorbereitungen für den Winter laufen. Es sind ca. 30 Organisationen und Unternehmen aus Polen und der internationalen Gemeinschaft beteiligt. Dreh- und Angelpunkt ist das ehemalige Firmengelände der Supermarkt-Kette „Tesco“, durch das seit Februar rund 1,5 Mio. Flüchtlinge geschleust wurden und das eins von sieben Verteilzentren in ganz Polen ist: Grundlage ist ein Vertrag zwischen der Stadt Przemysl und den Eigentürmern; der Bürgermeister beschreibt die Zusammenarbeit mit ihnen als „reibungslos“. Kürzlich sei er mit bangen Gefühlen zu einer Besprechung gefahren, aber die Eigentümer des Firmengeländes hätten von sich aus eine Vertragsverlängerung über die Wintermonate hinweg angeboten. Die Geflüchteten, die sich im Durchschnitt 48 Stunden dort aufhalten, werden registriert, erhalten Nahrung, einen Schlafplatz und medizinische Versorgung. Sie werden mit gespendeten Nahrungsmitteln, Kleiderspenden, Hygieneartikeln u.v.m. versorgt. Besonders benötigt werden dort gerade Winterkleidung und haltbare Lebensmittel. Alle zwei Tage fährt ein Zug mit vier Kurswagen Richtung Prag und weiter nach Hannover, mit dem Flüchtlinge kostenlos mitfahren können – andere Weitertransportmöglichkeiten gibt es nach Angaben der Verantwortlichen im Zentrum zurzeit nicht.
„Die Würde jedes und jeder einzelnen im Mittelpunkt“ – Jesuitenflüchtlingsdienst für die Erstaufnahme sowie gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration
„Es fällt auf, dass es in ganz Polen keine Flüchtlingslager wie in anderen Gegenden der Welt gibt“ – berichtet auch Pater Valery Osmolovsky SJ vom Flüchtlingsdienst der Jesuiten (JRS). Die Hilfsbereitschaft in Polen scheint grenzenlos, viele Familien rückten zusammen, Pfarrgemeinden stellten ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Die Delegation konnte u.a. die Räumlichkeiten der Dompfarrei in Augenschein nehmen, die erst vor zwei Wochen die letzten Bewohner verabschieden konnten, die eigene Räumlichkeiten gefunden hatten, und jetzt renovieren muss. Dies liegt einerseits daran, dass für viele Menschen in Polen klarer als anderswo in Europa ist, dass in diesem Krieg auch für ihre Freiheit gekämpft wird. Andererseits gab es bereits bis Februar 2022 rund 2 Mio. Ukrainer – vor allem Arbeitsmigrantinnen, zum kleineren Teil Geflüchtete aus der Ostukraine –, die sehr schnell Netzwerke bilden konnten. Im Zentrum der Hilfe des JRS steht die Würde jedes einzelnen Flüchtlings, was sich zum Beispiel auch in der Espresso-Ration für Erwachsene widerspiegelt, die der JRS geordert hatte, und deren Sinn nicht jeder hilfswilligen Organisation im Westen auf Anhieb klar gewesen sei: Auf entsprechende Nachfragen habe man geduldig erklärt, dass es sich keineswegs um überflüssigen Luxus handle, sondern die kurzen Minuten des besonderen Kaffeegenusses für viele Menschen auch dieser Moment des „Trostes“ seien, wie sie vom Ordensgründer Ignatius dringend empfohlen werden. Daneben leisten die Jesuiten einen wichtigen Beitrag zur Erstversorgung und zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Integration geflüchteter Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie bringen Geflüchtete nicht nur länger oder kürzer in ihren eigenen Häusern und Partnerorganisationen unter, sondern unterstützen bei der Wohnungssuche, organisieren Beratung in psychologischen, rechtlichen und den Arbeitsmarkt betreffenden Fragen, organisieren Polnischkurse und vieles mehr. Eine besondere Sorge bereitet der Schutz allein reisender junger Frauen, damit sie nicht in die Hände von Menschenhändlern geraten und nach Deutschland gebracht werden, das wegen seiner Gesetzgebung ideale Bedingungen für organisierte Zwangsprostitution bietet. Trotz all dieser Bemühungen spricht Pater Valery von einer „verlorenen Generation“ von mindestens 20 Jahren und stellt einen Bezug her zu den vielfachen Traumata-Erfahrungen in der Ukraine z.B. aus dem Zweiten Weltkrieg, die noch lange Auswirkungen gehabt hätten. Der Versöhnung zwischen Ukraine und Russland gibt der Jesuit zur Zeit keine realistische Chance: Solange unsägliches Leid und große Zerstörung auf der einen Seite verursacht wird und nicht um Vergebung gebeten wird, kann es auch kein Verzeihen der anderen Seite und damit auch keine Versöhnung geben.
3. November 2022 || ein Bericht von Dr. Markus Ingenlath, Mitglied der Geschäftsführung von Renovabis
- Ankunft „Przemysl Hauptbahnhof“ nach einer Fahrt im Nachtexpress Swinemünde – Przemysl (mit rund 1000 km die längste Zugstrecke Polens).
- Der Empfang für Flüchtlinge – viele sind auf der Durchreise. Der Bahnhof steht unter dem Kommando der polnischen Territorialverteidigung (WOT) – einer seit 2016 neu aufgebauten Teilstreitkraft des polnischen Heeres – deren Angehörige aus Sicherheitsgründen nicht fotografiert werden durften.
- Der Bürgermeister von Przemysl, Wojciech Bakun, bedankt sich bei Marie von Manteuffel/ZdK und Markus Ingenlath/Renovabis für das Interesse und die Solidarität aus Deutschland.
- Besuch im früheren Einkaufscenter der Supermarktkette TESCO, das leer stand und seit Frühjahr 2022 zum zentralen Hilfs- und Koordinationsort der Flüchtlingshilfe in Przemysl wurde….