Das Versprechen

Ist die Gegenwart nicht recht zu fassen, die Zukunft nicht mehr planbar, dann hilft die Verankerung in der eigenen Geschichte, um wieder Halt zu finden, Ausrichtung und Vertrauen, in das, um was es uns wirklich geht im Leben. Wofür stehe ich? Warum bin ich da? Was ist meine Essenz? Worauf vertraue ich?

Was ist es, das mich trägt und hält jenseits aller Ereignishaftigkeit?

Seit eh und je haben Menschen in unsicheren Zeiten Halt im Wort gesucht, in der Schrift; nicht umsonst reden wir von der Heiligen Schrift. Das Heilige birgt das Heilende. Und das ist auch in der eigenen Geschichte zu finden, ebenso in den Erzählungen der anderen. Darum lesen wir Romane und Biografien, darum erzählen wir uns voneinander. Der Mensch ist das „erzählende Tier“, Wissenschaftler reden neuerdings vom homo narrans.

Wir erzählen, weil sich die Welt nicht in Formeln fassen lässt, weil das Leben lebendig ist und das heißt, voller Überraschungen, voller Rätsel und Geheimnisse. Geschichten bieten nicht nur Sinnzusammenhang, sie bieten immer auch verschiedene Perspektiven. Und: Sie bieten Trost.

Wie oft schon habe ich es in den Biografie-Seminaren erlebt, dass sich schreibend ein völlig neuer Blick auf das Leben ergab, was sehr oft Erleichterung zur Folge hatte und meistens Dankbarkeit. Und letztere gerade auch für die schwierigen Zeiten. Im Rückblick erkennen wir, was uns stärkte, dass wir an den Herausforderungen gewachsen sind. Aber auch: Dass wir schwach sein durften und auch darin eine Kraft lag. Und wie viel Freude bereitet es, schöne Erinnerungen wieder wachzurufen!

Aber natürlich stellen sich auch Fragen:

Was? Ich soll meine Lebensgeschichte aufschreiben, womit fange ich denn an?

Das ist ganz einfach: Immer mit dem Jetzt! Immer mit dem, was Sie gerade jetzt umgibt, was Sie jetzt wahrnehmen. Das ist übrigens zugleich ein uralter Trick der Schriftsteller, sie nehmen das Jetzt wahr, lassen sich davon inspirieren und tauchen dann in ihre Geschichte ein.

Und jetzt sind wir im Mai, jenseits aller Krisen ist das traditionell der Monat, in dem sich die Menschen gerne trauen. Sie geben sich mutig ein Versprechen für eine Zukunft, die sie nicht kennen, von der sie nur Vorstellungen haben, viele schöne und die ein oder andere Befürchtung haben sie ebenso. Das Wort „Trauung“ beinhaltet ein mehrfaches Vertrauen. Man vertraut sich selbst, dem anderen und auch dem Leben mit diesem speziellen Pakt, den man für die Zukunft eingehen wird.

Und was ich Ihnen jetzt ans Herz legen möchte, ist, dass Sie sich trauen und sich ein Versprechen geben. Dass Sie, in diesem Fall, ein Bündnis mit sich selbst eingehen, und zwar mit dem besten und schönsten Teil in Ihnen, genauso, wie es bei einer Trauung sein sollte.

Dazu lege ich Ihnen hier eine Übung nahe, der ich vor kurzem selbst wieder gefolgt bin. Ich fand beim Aufräumen ein altes Foto von mir. Die junge Frau auf diesem Bild hatte ich fast vergessen, damals war ich Ende zwanzig, hatte mein altes Leben gerade hinter mir gelassen, war aufgebrochen in ein fernes Land ohne Geld, ohne feste Vorstellung, aber mit dem sicheren Gefühl, dass ich all dies tun müsse. Als ich das Bild sah, dieses Wesen, das dort in der Ferne etwas verloren unter einem großen blauen Himmel stand, und mich selbst darin erkennen konnte, gab ich dieser jungen Frau ein Versprechen: Ich möchte ihr treu bleiben, egal, was passiert. Weiter der Spur folgen, die keine ist, da sie erst im Gehen entsteht, dem Wagnis Leben immer wieder neu entgegentreten, die Unsicherheiten umarmen und Sicherheit finden in etwas, das größer und mehr ist als ich selbst.

Diese Übung empfehle ich Ihnen, sie ist kostbar. Sie gibt Kraft.

Wühlen Sie die Kiste mit den alten Fotos durch, das richtige wird Ihnen in die Hände fallen, und dann geben Sie dem Menschen, der Sie einst waren und im Kern noch immer sind, das Versprechen. Trauen Sie sich. Schreiben Sie auf, woran Sie sich halten wollen, wem und was sie treu bleiben wollen.

Viel Freude damit wünscht Ihnen

Liane Dirks

Foto von Liane Dirks: Bettina Fürst-Fastré
Titelbild: unsplash.com, gemeinfrei