Das verborgene Leben des kleinen Bruders
Ein neuer Heiliger
Wenn dieser Beitrag am heutigen Sonntag, 15. Mai 2022, veröffentlicht wird, macht sich in Rom Papst Franziskus daran, mit Charles de Foucauld einen Menschen heiligzusprechen, der ein äußerst wechselvolles Leben voller Extreme lebte.
Im Jahr 1858 kommt Charles Eugène Vicomte de Foucauld de Pontbriand in Straßburg als Spross einer äußerst wohlhabenden Familie zur Welt. Früh wird sein Leben von Verlusterfahrungen überschattet. Nachdem die Ehe der Eltern nur einige Jahre nach Charles‘ Geburt scheitert, sterben Vater und Mutter innerhalb weniger Monate.
Ein wechselvolles Leben
In der Schule und der anschließenden Offiziersausbildung fällt Charles durch Ungehorsam, ausschweifendem Lebensstil und Nachlässigkeit auf. Das große Erbe, das ihm nach dem Tod seines Großvaters zufällt, verprasst er. In der Rückschau wird Foucauld eine „schmerzliche Leere voller Traurigkeit“ erkennen, die ihn in diesen Jahren aller Sinnesfreuden zum Trotz beherrscht habe.
Dann nimmt sein Leben eine erste erstaunliche Wendung: Foucauld beschließt, als russischer Jude getarnt das zu dieser Zeit für Christen verschlossene Marokko zu bereisen. Das gefahrvolle Abenteuer wird ein großer Erfolg, der Foucauld höchste wissenschaftliche Auszeichnungen einbringt und glänzende Karriereperspektiven eröffnet. Doch die Erlebnisse der elfmonatigen Reise haben Foucauld verändert. Vor allem die Begegnung mit dem Islam und mit tiefgläubigen Muslimen hat in ihm die Frage nach Gott wachgerufen. Zurück in Paris verbringt Foucauld lange Stunden in Kirchen und betet dort immer wieder ein eigentümliches Gebet: „Mein Gott, wenn es dich gibt, lass mich dich erkennen.“
Nazaret und das Ideal des verborgenen Lebens
Unter dem Einfluss eines katholischen Geistlichen wendet sich Foucauld seinem alten Glauben schließlich wieder ganz zu und reist 1888 ins heilige Land. An den Lebensorten Jesu kommt ihm eine Erkenntnis, die sein weiteres Leben bestimmen wird: Foucauld wird gewahr, dass Jesus den weit überwiegenden Teil seines Lebens verborgen in Nazaret gelebt hatte. Fortan will Foucauld selbst auf diese Weise leben, um Jesus nahe zu sein. Sieben Jahre verbringt er in einer Trappistenabtei, bevor er nach Nazaret zurückkehrt. Hier lebt er als Hausbursche eines Klosters in äußerst ärmlichen Verhältnissen. Stundenlang betet er vor dem Allerheiligsten, studiert die Bibel und dokumentiert seine Gedanken, um zu innerer Klarheit zu gelangen.
Kleiner Bruder der Tuareg
Im Alter von 43 Jahren wird Foucauld zum Priester geweiht und begibt sich nach Algerien. In der Wüste möchte er seine Vision von einer christlichen Gemeinschaft realisieren und durch sein Leben in Armut „den Verlassensten“ das Evangelium zu verkünden. Sein Wunsch, Gefährten zu gewinnen, erfüllt sich jedoch nicht.
In den verschiedenen Einsiedeleien, die Charles de Foucauld in den folgenden Jahren in der Sahara und im Hoggar-Gebirge errichtet, bleibt er allein unter den Tuareg, deren Vertrauen und Zuneigung er gewinnt.
Die Einheimischen sehen in dem christlichen Eremiten, der sich selbst „Kleiner Bruder Charles von Jesus“ nennt, einen Marabou, einen heiligmäßigen Menschen, dessen Rat und Gebet sie schätzen. Foucauld seinerseits öffnet sich zusehends dem Leben seiner Nachbarn, mit deren Unterstützung er im Jahr 1908 eine Skorbuterkrankung überlebt. In den Wirren des Ersten Weltkriegs kommt Charles de Foucauld schließlich bei einem Rebellenangriff ums Leben.
Erst Jahre nach seinem Tod entstehen geistliche Gemeinschaften, die an die Spiritualität Charles de Foucaulds anknüpfen und heute etwa 13.000 Mitglieder haben. Mehr als hundert Jahre später wirft die Heiligsprechung Charles de Foucaulds unweigerlich Fragen auf. Was bezwecken der Papst und die Kirche damit?
Oscar für das Lebenswerk?
Wenn man die Heiligsprechung als eine Art Oscar oder Nobelpreis der Kirche versteht, wird man das Leben des Heiligen nach herausragenden Leistungen absuchen. Besonders gern gesehen: selbstlose Hingabe im caritativen Dienst an den Menschen.
Die Kanonisierung Mutter Teresas erscheint aus diesem Blickwinkel sofort einleuchtend. Aber warum soll jemand ausgezeichnet werden, der jahrelang als Einsiedler lebte und das Gros seiner Zeit im stillen Gebet verbrachte? Das mag als Ausgangspunkt akzeptabel sein, aber dann muss die Sache wachsen, müssen finanzielle Mittel bewegt und Mitstreiter gewonnen werden. Dazu muss man die Medien erreichen, Aufmerksamkeit erregen, prominente Unterstützer überzeugen, eine Organisation aufbauen, Filialen gründen. Skaleneffekte und Effizienz sind notwendige Voraussetzungen für den Impact, der eine Auszeichnung erst rechtfertigt.
Der letzte Platz statt 15 Minuten Ruhm
Dieser Logik entzieht sich das Leben Charles de Foucaulds. Es geht nicht um seine Leistungen für den interkulturellen Dialog, um das 2.000 Seiten starke Wörterbuch der Tuareg-Sprache, das er erstellte, um die zahllosen Gedichte und Fabeln, die er sammelte und dokumentierte. Auch Foucaulds caritatives Wirken, seine freigiebige Unterstützung der Menschen in seiner Nachbarschaft, ist so wenig ausschlaggebend wie seine militärischen Erfolge, die Goldmedaille der geografischen Gesellschaft oder sein Ruf als Partylöwe.
Was ist es dann? Welches Beispiel kann Charles de Foucauld geben? Was lässt sich von ihm lernen?
Um die Heiligkeit Charles de Foucaulds (und damit das Wesen der Heiligkeit an sich) zu begreifen, muss man sich als moderner Mensch gewissermaßen auf den Kopf stellen und alles aus dieser komplett anderen Perspektive sehen. Was sonst klein ist, wird dann groß, und was einem sonst groß erscheint, gerät aus dem Blick.
Foucaulds Ideal des verborgenen Lebens Jesu in Nazaret ist der radikale Gegenentwurf zu den „Fünfzehn Minuten Ruhm“, die Andy Warhol jedem Menschen in der modernen Unterhaltungskultur versprach. Wenn alles nach Glanz, Ruhm und Aufmerksamkeit giert, sucht Charles de Foucauld das verborgene Leben. Wenn Lebenssinn mit Gehalt, Karriere und Position gleichgesetzt wird, setzt sich Charles de Foucauld auf den letzten Platz. Und selbst denen, die mit großen Taten die Welt verbessern wollen, macht Charles de Foucauld deutlich, dass es eine andere Werteordnung gibt, in der es nicht um Leistung geht, nicht um Auszeichnungen und Impact.
Apostel in Reichweite
Charles de Foucaulds Programm ist dabei radikal einfach: „Jeder Christ soll Apostel sein für alle, die in Reichweite leben. […] Durch welche Mittel? … Güte, Herzlichkeit, geschwisterliche Zuwendung, das Beispiel der Tugend, Demut und Sanftmut, die immer anziehend wirken und zutiefst christlich sind, gegenüber allen Menschen ohne Ausnahme? … Vor allem: in jedem Menschen den Bruder, die Schwester sehen.“
Das einfache Leben mit den Menschen in der Welt, auch und gerade mit denen, die am Rande der Gesellschaft leben, darauf kommt es Charles de Foucauld an. Das eigene Dasein wird so „eine lebendige Predigt“, die ohne Worte auskommt.
Dies mag man in Zeiten von Krieg, Pandemie und Klimawandel für zu wenig erachten. Zweifelsohne ist es gut, dass sich Menschen um eine möglichst nachhaltige Verbesserung der Welt einsetzen, ob in der Wissenschaft oder in der Politik, in der Kunst oder in den Medien. Aber es gibt eben auch den anderen, den verborgenen Weg des Charles de Foucauld. Von diesem Lebensweg scheint die englische Autorin George Eliot eine Ahnung zu haben, wenn sie in ihrem Roman Middlemarch schreibt:
„Wenn die Welt immer besser wird, so ist das zum Teil auf Taten ohne historischen Rang zurückzuführen; und dass es um den Leser und mich nicht so schlecht steht, wie es sein könnte, das verdanken wir zur Hälfte den Menschen, die voll gläubigen Vertrauens ein Leben im Verborgenen geführt haben und in Gräbern ruhen, die kein Mensch kennt.“
Einladung
In der Nachfolge Charles de Foucaulds lebt der Priester und Autor Andreas Knapp mit drei Mitbrüdern in einem Plattenbau in Leipzig. Bei einem Online-Akademieabend am Montag, 23. Mai 2022 (19.00 Uhr) führt er in das Leben und die Spiritualität des heiligen Charles de Foucauld ein. Herzliche Einladung!
Bildnachweis
Eremitage von Charles de Foucauld in Tamanrasset (Algerien). Bild: Azzedine Rouichi auf Unsplash, gemeinfrei
Vigil für Charles de Foucauld vor dem Straßburger Münster, 6. Mai 2022, Bild: Claude Truong-Ngoc auf Flickr.com, (CC BY-NC-ND 2.0)
Charles de Foucauld mit seiner Mutter und seiner Schwester (ca. 1863). Bild: unbekannter Autor via Wikimedia commons (CC BY-SA 3.0)
Kapitän Nieger und Charles de Foucauld (ca. 1912). Bild: unbekannter Autor via Wikimedia commons, gemeinfrei
Charles de Foucauld als Eremit (ca. 1907). Bild: unbekannter Autor via Wikimedia commons, gemeinfrei
Das letzte Bild von Charles de Foucauld (1915). Bild: unbekannter Autor via Wikimedia (CC0 1.0)
15. Mai 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert