Schönheit wird die Welt retten
Der Zufall will es, dass sich am gestrigen ersten Adventssonntag dieses sonderbaren Jahres der Todestag der katholischen Sozialaktivistin Dorothy Day zum vierzigsten Mal jährt. Am 29. November 1980, nach Jahrzehnten des unermüdlichen Einsatzes für eine gerechte und friedliche Gesellschaftsordnung stirbt Dorothy Day kurz nach ihrem 83. Geburtstag im von ihr gegründeten New Yorker Maryhouse. Ein bewegtes Leben hatte sein Ende gefunden.
Geboren 1897 als Tochter eines Sportreporters, schlug auch Day früh eine journalistische Karriere ein. Schon während des Ersten Weltkriegs schrieb sie für verschiedene linke Blätter und war Teil der New Yorker Künstler- und Intellektuellenzirkel. Mit Mike Gold, der kulturellen Galionsfigur der Kommunistischen Partei der USA, hatte sie eine Liebesaffaire, mit dem Dramatiker und späteren Literaturnobelpreisträger Eugene O’Neill verband sie eine enge Freundschaft.
Doch Days Bohème-Leben nimmt eine Wendung, als sie Mitte der 20er Jahre schwanger wird. Diese Erfahrung weckt spirituelle Sehnsüchte und führt zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Christentum, insbesondere dem Katholizismus. Day lässt ihre Tochter katholisch taufen, worüber es zum Bruch mit ihrem Partner kommt. Wenig später wird auch Day selbst katholisch. Sie bleibt zwar den Anliegen der Arbeiterbewegung verbunden und schreibt weiterhin für sozialistische Zeitungen. Zwischen ihrem alten Aktivismus und ihrem neuen Glauben sieht Day jedoch einen Bruch, unter dem sie zunehmend leidet, den sie aber nicht zu überbrücken weiß.
Im Dezember 1932 kommt es dann zu einer schicksalhaften Begegnung mit dem aus Frankreich stammenden Wanderarbeiter und Straßenphilosophen Peter Maurin (s. Blog-Beitrag „Visionär einer neuen Gesellschaft“ vom 15. Mai 2020). Mit seiner Weltsicht, die sowohl von den päpstlichen Sozialenzykliken als auch von anarchistischen Ideen geprägt ist, bietet der Autodidakt Maurin Dorothy Day das fehlende Bindeglied zwischen katholischem Glauben und sozialem Engagement. Gemeinsam gründen die beiden die Zeitung „The Catholic Worker“, mit der sie auf dem Höhepunkt der großen Depression ihre Ideen verbreiten.
Im Umfeld der Zeitung entstehen Häuser der Gastfreundschaft, in denen Obdachlose beherbergt werden, Suppenküchen und landwirtschaftliche Kommunen. Aber der Einsatz der „Catholic Worker“ geht über das sozial-caritative Engagement hinaus. Vor allem Day betätigt sich weiterhin als Aktivistin: Sie nimmt an Protestmärschen teil, unterstützt Streiks, verweigert Steuerzahlungen und widersetzt sich öffentlichen Anordnungen. Immer wieder wird sie dafür inhaftiert, zuletzt im Alter von 75 Jahren, als sie die Aktionen der kalifornischen Farmarbeitergewerkschaft unterstützt. Für ihren rastlosen Einsatz wird Day bis heute als eine Ikone des sozialen Katholizismus Amerikas verehrt. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus haben ihr Glaubenszeugnis gepriesen, und seit zwanzig Jahren läuft ein Seligsprechungsverfahren.
Weniger bekannt dürfte Dorothy Days Liebe zur Kunst sein. So verblüffte vor drei Jahren Days Enkelin Kate Hennessy, als sie der Biographie ihrer Großmutter den Titel „The World Will be Saved by Beauty“ („Schönheit wird die Welt retten“) gab. Die Zeile stammt aus Dostojewskis Roman „Der Idiot“ und sei, so Hennessy, Dorothy Day gegen Ende ihres Lebens oft durch den Kopf gegangen. Zeitlebens war Day eine leidenschaftliche Leserin, verehrte Dostojewski, kannte aber auch gegenüber D.H. Lawrence oder Henry Miller keine Berührungsängste. Als junge Frau hatte sie alle Wagner-Opern in der Metropolitan Opera gesehen, und noch in den letzten Lebensjahren konnte sie bei einer Radioübertragung von Verdis Otello oder Puccinis La Bohème die Welt um sich herum vergessen.
Der Befreiungstheologe Leonardo Boff hat vor einigen Jahren in einer kleinen Meditation über Dostojewski und die Schönheit ausgeführt, „dass Schönheit uns zur Liebe führt, wenn wir den Schmerz unserer Mitmenschen teilen; die Welt wäre jetzt und für immer gerettet, wenn diese Geste gelebt würde.“ Dorothy Day hat dies getan. Wohl keine Begebenheit bezeugt dies so eindrucksvoll wie die Geschichte vom Wiesel, die sich in den 1950er Jahren zugetragen haben soll: Damals lebten Catharine Tarangel, eine psychisch kranke Frau, und ihr geistig behinderter Sohn John im Catholic-Worker-Haus von Manhattan. Catherine Tarangel wurde von anderen nur „das Wiesel“ genannt. Sie beklaute, belog und beschimpfte ihre Mitmenschen. Nachts quälte sie ihren Sohn mit Schlägen, damit seine Schreie den anderen Hausbewohnern den Schlaf raubten. Nie war sie zufrieden, stets erwartete sie weitere Unterstützung. Bekam sie diese nicht, schaltete sie Polizei und Anwälte ein. Dies ging über Jahre so. Immer wieder versuchten sich Day und ihre Mitstreiter von den Tarangels zu trennen, nur um diese nach einiger Zeit ins Haus zurückkehren zu lassen. Als Dorothy Day eines Tages ein diamantbesetzter Ring zur Unterstützung ihrer Arbeit gespendet wurde, schenkte sie diesen Catherine Tarangel – zum Entsetzen vieler Catholic Worker: Zahllose Monatsmieten hätte man aus dem Verkauf des Rings bestreiten, viele arme Menschen in der Suppenküche satt machen können! Man hätte auch eine Wohnung für Catherine und ihren Sohn mieten können! Aber Dorothy Day entgegnete ihren Kritikern: „Meint ihr, dass Gott schöne Dinge nur für die Reichen geschaffen hat? Lasst Catherine entscheiden, was mit dem Ring geschehen soll.“ Sicher werden sich die so Zurechtgewiesenen an die Stelle im Johannesevangelium erinnert haben, in der Maria von Bethanien Jesu Füße mit kostbarem Nardenöl salbt und mit ihren Haaren trocknet – sehr zum Missfallen des aktivistischen Judas Iskariot (Joh 12,1-7).
Die Schönheit bleibt sperrig, sie fügt sich in kein politisches Programm, sondern entzieht sich jeder direkten Verzweckung. Aber Dorothy Days beau geste kann uns zu Beginn der Adventszeit zu denken geben: Die Rettung, auf die wir hoffen, ist mit Maßstäben der Effizienz und Effektivität nicht zu ermessen. Ihr eignet eine ästhetische Qualität. Schönheit wird die Welt retten.
Bilder
Washington Square Park, New York, United States. Bild: Caitlyn Wilson auf Unsplash, gemeinfrei
Dorothy Day, 1916. Bild: Urheber unbekannt. Wikipedia, gemeinfrei
Dorothy Day 1973 (Bob Fitch photo). Bild: Jim Forest auf Flickr. (CC BY-NC-ND 2.0)
30. November 2020 || von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert