Armenien I Sehnsuchtsort im Schatten des Ararats

Unserer Sommerreihe „Alle Sehnsucht braucht ein Ziel“ stand ich bekanntermaßen kritisch gegenüber, da sich meine persönlichen Sehnsuchtsorte (berufsbedingt) weniger in der Region denn in der Ferne befinden. Ein Deal mit den Kolleginnen und Kollegen des Blogs war jedoch schnell gefunden: ein Reisebereicht über die Ferienakademie nach Armenien. Nichtahnend, dass genau diese Destination tatsächlich zum Sehnsuchtsort werden sollte …

Ein Überblick

Armenien als Bergland im Süden Transkaukasiens und Kreuzungspunkt zwischen Europa und Asien: Mit einer Fläche von 29.743 km² ist es genauso groß wie das Bundesland Brandenburg oder unser Nachbarland Belgien. Im Norden grenzt es an Georgien, im Süden an den Iran, im Osten an Aserbaidschan und im Westen an die Türkei. Der größte Teil des Landes liegt mehr als 1.000 Meter über dem Meeresspiegel und die höchste Erhebung ist der Berg Aragaz, dessen höchster Gipfel 4.096 Meter hoch ist. Der im östlichen Teil Armeniens gelegene Sewansee ist einer der höchsten Seen der Welt und in etwa doppelt so groß wie der Bodensee. Ganz schön viele Superlativen für so ein kleines Land, das touristisch die wenigsten auf dem Schirm haben und leider nur selten im Blick der großen, öffentlichen außenpolitischen Diskussionen in Deutschland steht.
Dabei verdichtet sich auf diesem kleinen Flecken Erde ein Kaleidoskop aus verschiedenen klimatischen Zonen: von schneebedeckten Berggipfeln über fruchtbare Felder, dichte Wälder, türkisfarbene Seen, trockene Steppen, öde Halbwüsten, grüne Alpentäler bis hin zu sonnengeblichenen weitläufigen steinernen Hochebenen. Von der einzigartigen Gastfreundschaft und der Herzlichkeit seiner Einwohner ganz zu schweigen.

Überzeugt? Im Prinzip ja …

… aber wie wahnsinnig schön das Ganze dann in Wirklichkeit aussehen sollte, darauf war ich nicht wirklich gefasst.

Sonntag, 2. Juli 2023
Bari galúst!
Nach dem obligatorischen Nachtflug über Wien landen wir frühmorgens in der Hauptstadt Yerevan und werden noch am Flughafen von unserem örtlichen Guide, Dr. Hrayr Baghramyan, begrüßt. Ein paar Stunden Schlaf und ein stärkendes Frühstück und schon geht es los.
Immer im Blick: der Berg Ararat
Obwohl im äußersten Osten der Türkei gelegen und seit langem nicht mehr zu Armenien gehörend, bestimmt der Berg Ararat mit 5.165 Metern und seinem ganzjährig schneebedeckten Gipfel vielerorts das Landschaftsbild Armeniens – und tatsächlich zeigt er sich uns gleich am ersten Vormittag so klar wie selten:

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Laut des ersten Buch Moses ließ Noah sich hier mit seiner Arche nieder, um die große Flut abzuwarten (1. Mose 8,4).

Die heilige Hripsime
Mit dem Bus unseres Vertrauens geht es weiter zur Kirche Surb Hripsime. Sie gehört zu den ältesten erhaltenen Kirchen in Armenien und wurde auf dem Gelände errichtet, an dem die heilige Märtyrerin Hripsime im Jahr 301 n. Chr. getötet wurde, nachdem sie sich geweigert hatte, eine Beziehung mit dem heidnischen römischen Kaiser Diokletian einzugehen. Mit der klassischen kreuzförmigen Kuppelstruktur erbaut, ist sie die erste von vielen Kreuzkuppelkirchen in Armenien, die wir während unseres Aufenthaltes kennenlernen werden.

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Surb Hripsime ist nicht nur ein architektonisches Juwel, sondern auch ein wichtiges Pilgerziel für Gläubige, die hierher kommen, um der Märtyrerin Hripsime zu gedenken und gehört außerdem zum historischen Ensemble von Etschmiadsin, welches wir direkt im Anschluss besuchen.

In den „Vatikan Armeniens“
Die Stadt Etschmiadsin, die sich nur etwa 20 Kilometer von Yerevan entfernt befindet, ist Sitz des armenischen Katholikos, dem Oberhaupt der Armenisch Apostolischen Kirche.

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Der Erbauungsort wurde einer Sage nach aufgrund einer Vision des Heiligen Gregors gewählt, in der Christus vom Himmel herabstieg und mit einem goldenen Hammer auf die Erde schlug, um ihm den Ort zu zeigen, an der die Kathedrale erbaut werden sollte. Sie wurde über Jahrhunderte hinweg renoviert und erweitert (auch aktuell ist sie in restauro), aber ihre ursprüngliche Architektur und Bedeutung als spirituelles Zentrum blieben erhalten.

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Montag, 3. Juli 2023
Unterwegs in der Hauptstadt
Armeniens Hauptstadt möchte zunächst bei einem Spaziergang erkundet werden. Yerevan ist nicht nur die größte Stadt Armeniens, sondern auch eine der ältesten kontinuierlich bewohnten Städte der Welt. Während historische Gebäude und Denkmäler die reiche Vergangenheit widerspiegeln, haben durchaus auch moderne Bauwerke die Skyline der Stadt geprägt. Ein charakteristisches Merkmal der Stadt ist das rosafarbene Tuffgestein, das in vielen Gebäuden verwendet wird und Yerevan den Spitznamen „Die rosarote Stadt“ eingebracht hat. Eines der Wahrzeichen von Yerevan ist der Platz der Republik.

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Er ist ein beliebter Treffpunkt für Einheimische und Besucher gleichermaßen und wird ringsherum von (Regierungs-)Gebäuden und Springbrunnen umgeben.
Ausflug aufs Land: Der Tempel Garni und das Höhlenkloster Geghard
Der Tempel Garni wurde im 1. Jahrhundert n. Chr. in der hellenistischen Zeit errichtet und diente als Heidentempel für die Verehrung des Sonnengottes Mihr. Er wurde von König Tiridates I. in Auftrag gegeben und ist eines der bekanntesten Überbleibsel aus der vorchristlichen Zeit Armeniens. Nach der Christianisierung Armeniens verlor der Tempel seine ursprüngliche religiöse Bedeutung, wurde aber dennoch als kulturelles Erbe geschätzt.
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Die anschließende Mittagspause verbringen wir in einem Gartenrestaurant, in dem uns auch die traditionelle Art des Brotbackens gezeigt wird.

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Das dünne Fladenbrot Lawasch darf auf keiner Tafel fehlen und wird in den Dörfern auch heute noch im Tonir, einem runden Ton-Ofen, der im Boden versenkt und mit Brennholz erhitzt wird, gebacken. Mit etwas Übung gelingt es uns langsam aber sicher, das Brot in traditioneller Manier zusammen mit frischen Kräutern (Petersilie, Estragon, Schnittlauch und rotem Basilikum) zusammenzurollen.

In der Gegend um Kotayk erwartet uns schließlich das Kloster Geghard. Es wurde in den Stein des umliegenden Hanges geschlagen und beherbergte ursprünglich die christliche Reliquie der „Heiligen Lanze“, nach der das Kloster benannt wurde (heute wird die Lanze in Etschmiadsin aufbewahrt). Das Kloster ist eines der bedeutendsten Wallfahrtsstätten Armeniens und UNESCO-Weltkulturerbe. Krönender Abschluss des Besuchs ist die ergreifende Gesangseinlage fünf junger Frauen, die durch die Wölbung der Kuppel besonders betont wird. Ein Gänsehaut-Moment für alle Beteiligten.

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Zurück in Yerevan bestaunen wir nach dem Abendessen gemeinsam noch die allabendlichen Wasserspiele auf dem Platz der Republik, die Jung und Alt gleichermaßen beeindrucken.
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Dienstag, 4. Juli 2023
Im Haus der Manuskripte
Anschließend begeben wir uns erneut zu Fuß auf Entdeckungstour in der Hauptstadt. Der Name des einzigartigen Museums Matenadaran leitet sich von den armenischen Wörtern „matean“ (Manuskripte) und „daran“ (Aufbewahrungsort) ab. Dementsprechend beherbergt es eine beeindruckende Sammlung von mehr als 17.000 armenischen Handschriften, die aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. bis zum 19. Jahrhundert n. Chr. stammen. Die Manuskripte umfassen eine Vielzahl von Themen, darunter religiöse Texte, historische Aufzeichnungen, literarische Werke, medizinische Abhandlungen, Musiknoten und vieles mehr. Unter den besonderen Schätzen des Matenadaran befinden sich einige der ältesten und wichtigsten Handschriften der armenischen Geschichte, darunter das Etschmiadzin-Evangelium (989) sowie die Mugni-Evangelien (1060). Außerdem ist es nicht nur ein Museum, sondern auch ein führendes wissenschaftliches Forschungszentrum für die Erforschung und Konservierung von Handschriften, das Wissenschaftler, Historiker und Gelehrte aus der ganzen Welt anzieht.

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(Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=961961)

Trauma einer ganzen Nation
Nach einem kurzen Besuch der wenigen derzeit geöffneten Räume des Nationalmuseums, in dem die lange und bewegte Geschichte Armeniens dargestellt wird, machen wir uns bereit für einen schweren Gang: Die Gedenkstätte Tsitsernakaberd (übersetzt: Schwalbenfestung) ist ein zutiefst bewegender und bedeutungsvoller Ort, der dem Gedenken an den Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs gewidmet ist, bei dem schätzungsweise 1,5 Millionen Armenier auf grausame Weise getötet wurden.
Hrayr führt uns zunächst durch das Museum der Gedenkstätte, welches neben einer ausführlichen Chronik der Ereignisse auch Fotos, Dokumente und persönliche Gegenstände der Opfer zeigt, um ihre Geschichte und das Ausmaß der Tragödie zu veranschaulichen. Zu diesem Zeitpunkt bewundere ich zum ersten, sicher aber nicht zum letzten Mal, die Souveränität und Größe, mit der unser local guide die schreckliche Geschichte seines Landes ausländischen Gästen näherbringt.
Anschließend nähern wir uns – schweigend und jeder in seinem Tempo – dem Hauptmerkmal der Gedenkstätte:

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Ein riesiger Denkmalkomplex, der aus drei Elementen besteht: einem 44 Meter hohen Obelisken, der als Symbol der Teilung des historischen armenischen Siedlungsgebiets der Länge nach gespalten ist, zwölf Pylonen, die rings um eine ewige Flamme zum Himmel ragen und einer 100 Meter langen Mauer mit den Namen der Städte und Dörfer, in denen die Opfer des Massakers wohnten. Auf der Rückseite der Gedenkmauer befinden sich Gedenkplatten für Personen, die sich während und nach dem Völkermord für die Opfer eingesetzt haben (u. a. Johannes Lepsius, Franz Werfel, Armin Wegner, Henry Morgenthau, Fridtjof Nansen, Papst Benedikt XV., Jakob Künzler, Bodil Biørn, Hedwig Büll). Alljährlich versammeln sich am 24. April Tausende von Menschen in Tsitsernakaberd, um dort gemeinsam der Opfer des Völkermodes zu gedenken.
So gedenken auch wir an diesem Spätnachmittag mit einem gemeinsamen Gebet der Verstorbenen. Der Himmel über Yerevan ist dabei ausnahmsweise so trüb und schwer wie unsere Gedanken und in nicht wenigen Gesichtern entdecke ich Tränen.

Mittwoch, 5. Juli 2023
Auf in den Nordwesten!
Wir lassen Yerevan hinter uns und machen uns auf in Richtung Nordwesten. Die Festung Amberd liegt in der Provinz Aragazotn, etwa 56 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt und thront majestätisch auf einem steilen Felsen inmitten des malerischen Aragaz-Gebirges. Die Festung mit ihren Verteidigungsmauern, Türmen, Wohngebäuden, einer Kapelle und einem unterirdischen Wassersystem diente als strategischer Verteidigungspunkt und war auch ein wichtiger Knotenpunkt entlang der alten Seidenstraße.

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Tagesziel ist die Stadt Gyumri, die ein Erdbeben im Jahr 1988 fast vollständig zerstörte. Gyumri ist die zweitgrößte Stadt Armeniens und nicht nur eine lebendige Metropole, sondern auch ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt in der Region. Der charmante Stadtkern mit einer Mischung aus sowjetischen und traditionellen armenischen Gebäuden ist ein kulturelles Zentrum und beheimatet viele Kunstgalerien, Museen und Theater sowie eine lebendige Künstlergemeinschaft.

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Hilfe für Menschen in Not
Nach einem ausführlichen Stadtrundgang sind wir am späten Nachmittag mit dem Direktor der Caritas Armenien, Dr. Gagik Tarasyan, verabredet. Im örtlichen Caritas-Zentrum werden wir herzlich begrüßt und über die vielen sozialen Projekte, die die Caritas nicht nur in Gyumri, sondern auch darüber hinaus betreibt, informiert. Gerne überreiche ich an diesem Nachmittag eine Spende der Akademie sowie aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Reise – und bin mehr als überrascht, als ich keine vier Wochen später eine E-Mail erhalte, in der die Caritas mir freudig mitteilt, dass damit fünf neue Nähmaschinen für die „Kunsthandwerklichen Werkstatt für Frauen“ angeschafft werden konnten.

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Das Projekt mit Sitz in Gyumri unterstützt 40 Frauen und junge Mädchen aus armen Familien, die z.B. alleinerziehend oder geschieden, geflüchtet oder von häuslicher Gewalt betroffen sind. Den Frauen soll damit die Möglichkeit gegeben werden, wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen, um so die Gefahr von Gewalt gegen Frauen zu verringern. Das Projekt wird u.a. mitfinanziert durch Renovabis. Schön zu sehen, dass die Hilfe ohne Umwege und zeitnah bei Menschen in Not ankommt!

Donnerstag, 6. Juli 2023
Auf der „Klösterstraße“
Nach nur einer Nacht müssen wir Gyumri schon wieder verlassen. Durch imposante Berglandschaften mit dem Aragaz-Massiv im Süden führt die längere Fahrt gen Osten zur Kathedrale von Odsun aus dem 7. Jahrhundert.

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Nachmittags gilt zunächst dem Kloster Haghpat, das auf einem Felsplateau thront, das Interesse. Die Architektur des Klosters gilt als herausragendes Beispiel für die armenische mittelalterliche Architektur. Es besteht aus einer beeindruckenden Anordnung von Kirchen, Kapellen, Wohngebäuden, Verteidigungsmauern und anderen Gebäuden, die oftmals mit kunstvollen Verzierungen und Reliefs gespickt sind.

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Ich bin tief beeindruckt von diesem einzigartigen Ensemble und denke: schöner kann es eigentlich nicht mehr werden …

Das Kloster Achtala als eines der wenigen orthodoxen Klöster bietet nochmals einen Kontrastpunkt: Die Befestigungsanlagen stammen aus dem 10. Jahrhundert, aber die Hauptkirche wurde vermutlich Ende des 12. Jahrhunderts erbaut und ist eine der wenigen mittelalterlichen Kirchen in Armenien, die die meisten ihrer ursprünglichen Fresken bewahrt hat.

Dazu gehören das Fresko der Jungfrau Maria in der Apsis und Darstellungen der Kommunion der Jünger, der Ostergeschichte und des Jüngsten Gerichts an anderen Wänden. Sie zählen zu den besterhaltenen in Armenien und erinnern mich stark an unseren Besuch in Georgien im letzten Sommer.
Am Abend erreichen wir unseren neuen Hotelstandort bei Alawerdi.

Wie die Reise weiter geht, lesen Sie in der Fortsetzung, die am 23.8.2023 erscheint.

10. August 2023 || ein Beitrag von Sandra Gilles, Leiterin der Ferienakademien

Sandra Gilles_Leiterin Ferienakademien

Vortrag und Gespräch
Bergkarabach – der schwarze Garten
Im Spannungsfeld von Identität, Völkerrecht und geostrategischen Interessen
6. September 2023 (Mi.) I 19.30 bis 21.00 Uhr

Matthias Kopp, der Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz, kennt die Kaukasusregion aus eigener Anschauung. In seinem Vortrag wird er die aktuelle politische und humanitäre Situation erläutern, ihre komplexen Hintergründe beleuchten und mögliche Zukunftsperspektiven ausloten.