Auf ein Wort mit … Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Speer
Lieber Herr Prof. Speer, Sie beschäftigen sich mit der Philosophie. Was ist das, die Philosophie? Was macht ein Mensch, der philosophiert? Was suchen Sie und wie suchen Sie? Was treibt Sie an?
Ein Mensch, der philosophiert, denkt nach. Und zwar auf eine besondere Weise. Er will nicht unbedingt ein Problem lösen (ich tausche die Akkus, damit meine Fahrradbeleuchtung wieder funktioniert) oder eine problemnahe Erklärung finden (warum ist mein PC-Programm abgestürzt). Ein Mensch, der philosophiert, löst sich von handlungsnahen Fragen, nimmt diese allenfalls als Ausgangspunkt und richtet den Blick auf die größeren Zusammenhänge, gewissermaßen auf die Welt im Ganzen (oder einen bestimmten Ausschnitt dieses Ganzen). Zugleich fragt, wer philosophiert, nach den Gründen, gibt Rechenschaft von seinem Wissen. In diesem Sinne heißt Philosophieren sich im Denken zu orientieren.
Mich fasziniert eine bildliche Allegorie der Äbtissin Herrad, die von 1167 bis 1195 Äbtissin des Klosters Hoheburg im Elsass war. Die Allegorie befindet sich im Hortus Deliciarum und ist als Faksimile erhalten geblieben. Gezeigt werden „Die sieben freien Künste“ im Trivium (die sprachlich und logisch-argumentativ ausgerichteten Fächer) GRAMMATIK, RHETORIK, DIALEKTIK und im Quadrivium (die mathematischen Fächer) ARITHMETIK, GEOMETRIE, MUSIK, ASTRONOMIE. Und mittendrin die Philosophie – abgebildet sind Sokrates und Plato -, sie bildet das Zentrum der Freien Künste. Wie interpretieren Sie diese Darstellung?
Die Ikonographie des „Hortus Deliciarum“ steht in der Tradition des Bildungsprogramms der sogenannten sieben freien Künste. Dieser Kanon bildet sich schon in der Antike heraus – daher auch Sokrates und Plato als Gründungsväter der Philosophie – und gilt bis in das 12. Jahrhundert hinein als Ideal einer „enkyklios paideia“ (in diesem Begriff steckt Enzyklopädie und Erziehung), d.h. einer umfassende Bildung, die ein Mensch braucht, um die besten Anlagen in ihm zu verwirklichen. Am „Hortus Deliciarum“ bemerkenswert ist, dass er sich an eine Klostergemeinschaft von Frauen richtet. Dies zeigt die Bedeutung der Klöster für das Durchbrechen von Bildungsschranken, die wiederum im antiken Begriff der „freien Künste“ liegen: Es waren die Künste, die die Freien (d.h. die frei Geborenen) ausüben durften. Genau diese ändert sich im Verlauf des Jahrtausends, dass wir Mittelalter nennen: Immer mehr Menschen erhalten Zugang zu dieser Bildung in Klöstern, an Kathedralschulen, Medressen (islamischen Schulen) und schließlich an den Universitäten.
Was bedeutet „Philosophie treiben“ im „Mittelalter“ und wo würden Sie die Philosophie heute sehen? Wo war ihr Sitz in den Wissenschaften und wo ist er in unserer Gesellschaft heute? Was ist geblieben und was hat sich verändert?
Ich möchte lieber von einem Jahrtausend sprechen, das eben kein Mittelalter war, sondern zum einen sich in Kontinuität sieht mit der antiken Tradition, zum anderen nicht nur auf das lateinische Abendland beschränkt ist, sondern in globaler Perspektive – d.h. im Rahmen der damals bekannten Welt rund um das Mittelmeer – auch griechisch, hebräisch und arabisch spricht. Hierbei gibt es viele Begegnungen zwischen den Kulturen, Religionen und Sprachen. Die Philosophie ist wie die Vernunft vielsprachig. Doch sie braucht auch Orte, wo sie betrieben werden kann. Das sind im lateinischen Abendland zunächst vor allem die Klöster, und dann die Universitäten, die zu einem großen Erfolgsmodell werden, das die ganze Welt erobert. Die Philosophie umfasste damals beinahe alle Wissenschaften. Diese machten sich mit den Jahrhunderten selbständig – eine Folge der Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften. Die Philosophie hat heute die Aufgabe, diesen Zusammenhang lebendig zu erhalten und Orientierung zu geben.
Welche philosophische Frage ist Ihre Lieblingsfrage?
Wie kommt es, dass wir uns im Alltag verstehen (auch wenn wir beispielsweise in einer fremden Stadt einen fremden Menschen treffen), ohne uns jemals auf irgendwelche Regeln geeinigt zu haben? Was sind die Bedingungen, die unser Alltagsverstehen ermöglichen?
Haben Sie einen Lieblingssatz in der Philosophie?
(…) „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ (Der Eröffnungssatz der „Metaphysik“ des Aristoteles)
Vielen Dank für das interessante Gespräch, für Ihre Zeit, für Ihre Antworten und Anregungen. Wir sind gespannt auf das Seminar am Sa/So, 26/27 August 2023, in dem Sie mit uns auf die Philosophie der Zeit zwischen 500 und 1.500, zwischen Antike und dem Beginn der Neuzeit, schauen.
26. bis 27. August 2023 (Sa.-So.)
Die Kunst der Künste
Ein neuer Blick auf die Philosophie des Mittelalters
Seminar mit Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Speer
Ein neuer Blick auf die Philosophie des „Mittelalters“ zeigt, dass diese vielgestaltig und vielsprachig, interdisziplinär, transkulturell und multireligiös war. Zudem wurden zentrale philosophische Fragen auf originelle Weise weiterentwickelt. Wie kann man die Geschichte dieses Jahrtausends anders und neu erzählen? Eine spannende Entdeckungsreise!
Das Interview führte Karin Dierkes, Referentin für Theologie und Philosophie.
Einmal im Monat erscheint „Auf ein Wort mit…“ und stellt interessante und engagierte Personen vor, mit denen die Akademie auf unterschiedliche Weise verbunden ist. Gesprochen wird über Gott und die Welt, über Kunst und Kultur, über Aktuelles aus Gesellschaft und Kirche ….
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2. Juli 2023 || ein Gespräch mit Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Speer. Andreas Speer ist Professor für Philosophie an der Universität zu Köln und Direktor des Thomas-Instituts. Seit 2013 ist er ordentliches Mitglied der geisteswissenschaftlichen Klasse der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.