Lieblingskirche: Sankt Stephan in Mainz
Mehrmals in der Woche ist in Mainz Markttag. Dann sind rund um den Dom die Stände aufgebaut und es pulsiert das Leben: da wird gefeilscht, probiert, gebabbelt und gelacht. Wenn auch das Wetter mitspielt und die Sonne scheint entfaltet sich eine geradezu italienische Atmosphäre.
Wer nun glaubt, er könne sich diesem Trubel dadurch entziehen, dass er einen Moment in den Dom geht, der sieht sich rasch eines Besseren belehrt. Die Geräusche der Stadt dringen hinein und es sind im Dom kaum weniger Leute unterwegs als davor. Der Besuch bei der schönen Mainzerin, einer hochverehrten Gottesmutter, gehört für die Mainzer halt ebenso zu einem richtigen Markttag, wie der Schoppen und die Fleischwurst beim Markt-Frühstück
Nein, wer einen ruhigen Kontrast zum quirligen Leben sucht, der sollte seine Schritte durch die Altstadt lenken, am Kirschgarten vorbei den Berg hinauf. Der Weg ist leicht zu finden, man muss nur den Kirchturm im Blick behalten, der die Stadt überragt, dann erreicht man die Stephanskirche.
Etwas verschlafen wirkt sie, wie sie da von alten Bäumen umgeben dasteht. Nichts erweckt zunächst den Anschein, dass es sich um einen der geschichtsträchtigen Orte von Mainz handelt. Wohl im Auftrag der Kaiserin Theophanu gründete der Mainzer Bischof Williges hier vor weit über 1000 Jahren ein Stift als Gebetsstätte des Reiches. Das Stift selbst ist natürlich längst aufgelöst, seine Gebäude weitgehend verschwunden, seine reichen Schätze in alle Winde verstreut: das ein oder andere Stück – immerhin – gibt noch Kunde vom ursprünglichen Glanz. Eine 1000-jährige aus byzantinischer Seide gefertigte goldene Kasel etwa, die sich heute im Dommuseum befindet.
Die Kirche selbst, eine spätgotische Halle, mehrfach umgebaut, im Lauf der Zeiten immer wieder beschädigt, zuletzt im zweiten Weltkrieg fürchterlich versehrt: die Dächer abgebrannt, die Gewölbe eingestürzt, die Fenster gesprungen.
Wer eintritt, trifft auf einen Krüppel mit amputierten Gewölben und verlorener Innenausstattung. Und doch, sofort bemerkt man das Besondere. Das Licht dieser Kirche: Blau und magisch. Das verdankt der Raum seinen Fenstern, die ihm Atmosphäre geben und hinter denen eine besondere Geschichte steht.
Sie beginnt mit dem Pfarrer Klaus Mayer, der 1965 die Pfarrei übernimmt und ihrer Kirche etwas wiedergeben will. Sie soll nicht nur von Krieg und Zerstörung künden, vom Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist. Sie soll auch darauf verweisen, dass das Leben weitergeht, dass Versöhnung möglich ist, dass auch die dunkelste Stunde einmal endet, das schrecklichste Regime einmal stürzt.
Als junger Mann ist er der Deportation durch die Nazis nur knapp entkommen. Jetzt setzt er sich hin und schreibt einen Brief an den vielleicht profiliertesten Glaskünstler seiner Zeit, an Marc Chagall, und fragt, ob dieser nicht die neuen Fenster für die Kirche gestalten möchte. Dieser reagiert verhalten, ist doch die jüdische Welt seiner Kindheit, der er entstammt und von der seiner Kunst erzählt, durch die Nazis zerstört worden, seine Familie ausgelöscht. Chagall wollte das Land der Täter meiden, für keine Kirche dort arbeiten. Aber der Pfarrer überzeugt ihn, gerade dadurch ein Werk der Versöhnung zu schaffen. Und so birgt St. Stephan den einzigen Zyklus von Chagall-Fenstern in Deutschland. Eine kraftvolle Arbeit mit ausdrucksstark intensiven Farben und Bildern biblischer Szenen im Chor. Und immer ist da dieses Blau, das auch die ornamental gestalteten Langhausfenster dominiert und dem Raum jene besondere Atmosphäre verleiht.
Es sollte Marc Chagalls letztes großes Projekt für einen Fensterzyklus werden. Er erlebte dessen Fertigstellung nicht mehr, nach Chagalls Tod 1985 vollendete der Leiter des Glasateliers mit dem Chagall 28 Jahre zusammengearbeitet hatte, die Langhausfenster im Sinne des Künstlers und nach dessen Entwürfen.
Entstanden ist so ein Raum von einzigartiger Lichtwirkung, der zur Andacht anregt, zum Innehalten, zum Nachdenken. Eine Lieblingskirche.
Titelbild: © pexels, Brett Sayles
Welche ist Ihre Lieblingskirche? | Unsere Reihe in der Fastenzeit
Kirche besitzen eine hohe Anziehungskraft und meist eine besondere Atmosphäre. Kirchliche Räume wirken und man spürt, dass sie zur Besinnung, zum Innehalten, Nachdenken und Gebet einladen. Sie sind Bauwerke, denen man sich kaum entziehen kann und sie bewegen etwas in einem. Menschen nehmen diese – selbstverständlich individuell verschieden – wahr. Oft gibt es eine besondere Kirche, mit der man etwas verbindet, in der man sich besonders willkommen und wohl fühlt. In der Fastenzeit fragen wir Menschen, die mit der Akademie verbunden sind, nach ihrer Lieblingskirche. Die Beiträge lesen Sie an den Fastensonntagen 2023.
12. März 2023 || ein Beitrag von Daniel Leis, Historiker und Kunsthistoriker
Unsere Ferienakademien mit Daniel Leis:
24. April bis 1. Mai 2023 (Mo.-Mo.)
Küste des Lichts. Küste der Maler.
Matisse, Chagall, Picasso … an der Côte d’Azur
20. bis 27. Mai 2023 (Sa.-Sa.)
Im Land der Skipetaren
Albanien – das letzte Geheimnis Europas
14. bis 19. Juni 2023 (Mi.-Mo.)
Flanderns Städte. Flanderns Schätze.
Antwerpen, Brügge, Gent, Oostende und Veurne
5. bis 9. Juli 2023 (Mi.-So.)
Weltstadt der Worte
Literarische Streifzüge durch Dublin
10. bis 17. August 2023 (Do.-Do.)
Gärten, Schlösser, Kathedralen
Englands malerischer Süden
25. September bis 2. Oktober 2023 (Mo.-Mo.)
Land der Farben und des Lichts
Die Provence
16. bis 22. Oktober 2023 (Mo.-So.)
Einzigartig eidgenössisch
Ausstellungen und Sammlungen in der Schweiz
2. bis 7. November 2023 (Do.-Di.)
Kunstmetropole London
Museen, Sammlungen, Künstlerhäuser