Den entscheidenden Wurf wagen: Gedanken zum 20. Juli

Der 20. Juli ist und bleibt ein schwieriges Datum. Wie viele wissen heute noch, was heute vor 76 Jahren geschah? Was würde wohl eine Straßenumfrage dazu ergeben?

Zwar gibt es stets Gedenkveranstaltungen mit den obligatorischen Ansprachen und Kranzniederlegungen, und seit mehr als zwei Jahrzehnten findet auch das Feierliche Gelöbnis der Bundeswehrrekruten am 20. Juli statt. Aber dies dürfte am heutigen Montag nicht nur angesichts der Corona-Beschränkungen kaum größere Beachtung finden.

Auch in den jünsten Diskussionen um einen weiteren gesetzlichen Feiertag scheint der 20. Juli keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben. In Berlin sollte im Gedenken an den Berliner Barrikadenkampf von 1848 der 18. März zum gesetzlichen Feiertag erhoben werden. Die Wahl fiel dann aber auf den Weltfrauentag (8. März), während man sich in Thüringen für den Weltkindertag (20. September) entschied. Einige Bundesländer erklärten im Zuge des 500. Reformationsjubiläums den 31. Oktober zum Feiertag.

Der 20. Juli scheint als Feiertag nicht recht zu passen. Dies mag daran liegen, dass er sich einer einfachen Kategorisierung entzieht: Man kann das Attentat auf den Diktator Hitler als Akt des mutigen Widerstandes gegen die Gewaltherrschaft feiern. Dabei darf man aber nicht ausblenden, dass der Versuch fehlschlug und dass ihn viele der Beteiligten mit ihrem Leben bezahlten.

Die Liste der hingerichteten Beteiligten, Mitwisser und Unterstützer des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 ist lang und umfasst so unterschiedliche Personen wie die Köpfe des militärischen Widerstandes um Claus Graf von Stauffenberg, die Führungspersönlichkeiten des „Kreisauer Kreis“ um Helmuth James Graf Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg, Sozialdemokraten wie Adolf Reichwein und Julius Leber, den großen protestantischen Theologen Dietrich Bonhoeffer ebenso wie den Jesuiten-Pater Alfred Delp. Ein einfacher Feiertag wäre der 20. Juli also nicht, aber eben auch kein zweiter Volkstrauertag.

Die Bewertung des Ereignisses wird zusätzlich durch die Tendenz erschwert, die Widerstandskämpfer anhand ihrer Weltanschauungen in gute und zweifelhafte Personen zu unterscheiden. Hat der George-Jünger Stauffenberg nicht bei seiner Hinrichtung „Es lebe das heilige Deutschland!“ gerufen? Gehörte nicht der als zukünftiger Reichskanzler ausersehene Carl Friedrich Goerdeler jener DNVP an, die den Nationalsozialisten den Weg bereitete? Und was ist von diesen ostelbischen Junkern zu halten, mögen sie auch wie Moltke als „rote Grafen“ bezeichnet worden sein?

Diese im Gestus der moralischen Überlegenheit und aus bequemer Distanz vorgenommene Differenzierung wird dem Opfer, das Goerdeler wie Bonhoeffer, Stauffenberg wie Reichwein brachten, nicht gerecht. Eine kritische Einordnung darf zweifelsohne stattfinden, und eine undistanzierte Verehrung würde der Sache auch nicht gerecht. Aber der Mut und die Opferbereitschaft, die die Männer und Frauen im Widerstand aufbrachten, dürfen nicht unter Verweis auf Weltanschauungen und Motive relativiert werden. Joachim Käppner mag recht haben, wenn er zum 75. Jahrestag des Hitler-Attentats in der Süddeutschen Zeitung schreibt, dass uns die Menschen des Widerstands bis auf wenige Ausnahmen „wie Wesen aus einer anderen Galaxie“ erscheinen. Aber ebenso wenig dürften wir aus eigenem Erleben ermessen können, was es bedeutet, das eigene Leben für ein höheres, allgemeines Gut einzusetzen.

Wer die Menschen des Widerstands nach den eigenen weltanschaulichen Koordinaten in unterschiedliche Güteklassen einsortiert, übersieht auch, dass im Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft Menschen zueinander fanden, die sich zuvor wohl durchaus misstraut, vielleicht sogar leidenschaftlich bekämpft hatten. In dieser Allianz wurde endlich erreicht, woran es der Weimarer Republik so schmerzlich gemangelt hatte: ein Grundkonsens der demokratischen Lager, gesellschaftlichen „Stände“ und Konfessionen. Es liegt nahe, in dieser Erfahrung auch eine Grundlage für den Erfolg der bundesrepublikanischen Demokratie nach 1945 zu sehen.

Ein weiterer Aspekt verdient abschließend Beachtung: In einer Zeit des pragmatischen Nützlichkeitsdenkens wird oft suggeriert, es komme allein auf das erzielte Ergebnis, auf den Ertrag und den Gewinn an. Der aussichtslose Einsatz erscheint nur dann beachtenswert, wenn er letztlich zum nicht mehr erwarteten Erfolg führt. Der Widerstand gegen die Diktatur der Nationalsozialisten, dessen am heutigen 20. Juli gedacht wird, lehrt dagegen, dass es auch auf den (aussichtslosen) Versuch ankommt. So schrieb Generalmajor Henning von Tresckow im Juni 1944 an den nach der Invasion der Westalliierten in der Normandie am Attentatsplan zweifelnden Stauffenberg: „Das Attentat muß erfolgen, coûte que coûte. […] Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“

Während Stauffenberg Einsatz und Nutzen der Operation abzuwägen scheint, hat Tresckow den zeichenhaften Wert des Versuchs im Blick. Ob und wie die Welt und die Geschichte diesen Versuch wahrnehmen und bewerten würden, konnte Tresckow nicht wissen und sollte er, der sich am Tag nach dem missglückten Attentat das Leben nahm, nicht mehr erfahren.

Hätten die Verschwörer Erfolg gehabt, wäre der 20. Juli heute ein großer Feiertag. So bleibt er ein Tag, der uns Fragen stellt und der uns daran erinnert, dass es in den wirklich großen Angelegenheiten des Lebens und Zusammenlebens darauf ankommt, den entscheidenden Wurf zu wagen. Das darf man durchaus auch persönlich nehmen und sich fragen: Wofür setze ich mich ein? Zu welchem Einsatz, zu welchem Opfer bin ich bereit?

Mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 – aber auch mit zahllosen kleinen und großen Akten des Widerstands gegen die Diktatur – gingen ganz unterschiedliche Menschen dieses Wagnis ein. Ihnen allen gebührt unser Respekt.

Bilder
Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Bild: Tobias Nordhausen auf Flickr (CC BY 2.0)
Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Bild: Wikipedia, gemeinfrei
Helmuth James Graf von Moltke vor dem Volksgerichtshof, Januar 1945. Bild: Bundesarchiv auf Wikipedia (CC BY-SA 3.0 de)

20. Juli 2020 || von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent