… wozu braucht uns diese Erde? Die Enzyklika Laudato si‘ als spirituelle Herausforderung
Im Juni 2015 veröffentlichte Papst Franziskus die Enzyklika Laudato si‘, die eine weltweite mediale Aufmerksamkeit erhielt und sogar als Wendepunkt in der Kirchengeschichte bezeichnet wird. Anlässlich des fünften Jahrestages der Enzyklika sprach Akademiereferent Matthias Lehnert mit der Aachener Philosophin und Lateinamerikanistin Dr. Elisabeth Steffens.
Bei ihrem Erscheinen wurde Laudato si‘ weltweit begeistert aufgenommen. Wie sehen Sie die Enzyklika heute, ein halbes Jahrzehnt nach ihrer Veröffentlichung
Laudato si‘ hat auch heute nach fünf Jahren absolut nichts an ihrer Dringlichkeit verloren. Viel mehr noch ‒ die Corona-Pandemie lässt Menschen im sogenannten materiell reichen Norden den Klimawandel am eigenen Leibe spüren. Wir brauchen dabei die Einsicht von Laudato si‘ „wenn ein Glied leidet, so leiden Alle mit“. Wir müssen uns weiter „fair-ändern“. Ich finde, der verordnete Lockdown in den vergangenen Wochen ist uns ganz gut gelungen. Die Schöpfung konnte vielerorts aufatmen.
Beachtung fand Laudato si‘ vor allem wegen der Analyse der ökologischen und sozialen Probleme der Weltgemeinschaft und der darauf aufbauenden eindringlichen Aufforderung des Papstes, diese Probleme anzugehen. Die Spiritualität der Enzyklika fand und findet bis heute dagegen vergleichsweise wenig Beachtung. Oder täuscht dieser Eindruck?
Ich stimme Ihnen zu, dass die Enzyklika bisher kaum als spirituelle Chance zur Erneuerung unseres Glaubens wahrgenommen wird. Gleichzeitig bin ich sehr beeindruckt, wenn Chachi-Frauen aus San Salvador ‒ gefördert durch die Fundación Pueblo Indio del Ecuador ‒ Solartechnik in Neu-Delhi studieren und jetzt die Dächer ihre Häuser zur Gewinnung von sauberer Energie nutzen. Dann wird für mich die von Papst Franziskus artikulierte Forderung, den „Schrei der Erde und den Schrei der Armgemachten zusammenzuhören“, verwirklicht. Daran gilt es anzuknüpfen. Dem materiellen Wachstumswahn könnten wir eine erdverbundenere Innerlichkeit entgegenhalten.
Wie würden Sie denn die spezifische Spiritualität von Laudato si‘ charakterisieren?
Um nicht weiter auf Kosten der (nicht)menschlichen Anderen in der Welt leben zu wollen, brauchen wir nicht nur ehrlichere Beziehungen, angepasste Technologien, sondern auch Grünkraft. Für Papst Franziskus ist jede Eucharistiefeier ein kosmisches Fest. Wenn das keine Kraftquelle ist! Das Christentum ist zwar keine Naturreligion, wir müssen dennoch anerkennen, dass ‒ so wie in dem Buch Genesis beschrieben ‒ die Erde, das Wasser, das Licht und der Wind schon viele Zeitalter vor uns Menschen existierten. Sind Brot, Weihwasser, Kerzen und Weihrauch eigentlich nicht schon immer auch Ausdruck unseres kosmischen Mitseins? Idealisieren wir diese Elemente nicht oft „nur“ zum Lobe der Dreifaltigkeit? Wie gehen wir damit um, dass Mächte und Gewalten auch zerstörerisch sind? Sind Tsunamis auch göttlich?
Sie befassen sich mit diesen Themen nicht zuletzt auch aus der Perspektive der Lateinamerikanistin. Sehen Sie eine innerliche Verbindung zwischen der Enzyklika Laudato si‘ und der Amazonassynode vom letzten Herbst?
Ja, diese Bischofssynode ist für mich eine konkrete Kontextualisierung von Laudato si‘. Papst Franziskus schätzt indigene Kulturen. Durch sie sind ihre (nicht-)katholischen Angehörigen zu politischen Partner*innen im Kampf gegen die Zerstörung des Amazonas, der „Lunge der Welt“, geworden. Das ist klasse!
Die Amazonassynode ist hierzulande vor allem mit Blick auf Fragen des Zölibats und des Frauenpriestertums diskutiert worden. Die Lebenswirklichkeit der Menschen in Amazonien blieb dagegen etwas unterbelichtet. Allenfalls durch die Aufregung um die Figuren der „Pachamama“ bekam dieser – eigentlich ja zentrale – Aspekt eine gewisse Aufmerksamkeit. Wie ist die Synode denn in Lateinamerika aufgenommen worden? Und hat man dort die Aufregung um die Pachamama-Figuren nachvollziehen können?
Amazonische Organisationen haben die Synode positiv aufgenommen und brauchen vor allem jetzt möglichst unbürokratisch Unterstützung von Hilfsorganisationen wie Misereor und Adveniat, um den Ökozid auch an den Indigenen aufzuhalten.
Dass ein Mann aus Wien die Pachamama-Figuren während der Synode in den Tiber geworfen hat, hat vielleicht bei uns in Europa für mehr Wirbel als in Lateinamerika gesorgt: Der Mann ist ein gefragter Redner geworden. Seine Anhänger*innen haben Angst davor, dass sie sich in unserer Kirche nicht mehr zu Hause fühlen können. Diese Angst muss man ernstnehmen. Mich hat aber überrascht, dass Theolog*innen diesen Figuren ihren religiösen Wert abgesprochen haben. Ich dachte die Zeiten, in denen wir meinen, dafür sorgen zu müssen, dass Andersgläubigen ein Licht aufgeht, seien vorbei.
Die Enzyklika hat das Bild des „gemeinsamen Hauses“ berühmt gemacht. Die Bildnisse der Pachamama bei der Synode sorgten für Irritationen. Welche Rolle spielen Bilder für die „Schöpfungsspiritualität“, die sich mit diesen beiden Ereignissen verbindet?
Nicht nur in der andinen Weltsicht sind Alle mit Allen verbunden. Pachamama, die Mutter Erde, ist ein Ausdruck für dieses Wissen. Auch der Künstler Marvin Fernando Martínez Rodrigues aus Nicaragua verdeutlicht diese Lebensgrundlage körperzentriert: Immer dann, wenn wir ‒ auch spirituell ‒ vergessen, dass wir Erde sind, explodiert unser Planet wie eine Bombe … und das nicht nur im Amazonas.
Frau Dr. Steffens, vielen Dank für das Gespräch!
¡Muchas gracias!
Literaturhinweise:
- Elisabeth Steffens, „Spirituality and Theology of Creation”, in: Asian Horizons. Dharmaram Journal of Theology, 13 (2019) 3, S. 465-470; https://amerindiaenlared.org/contenido/16814/spirituality-and-theology-of-creation/, 24.4.2020.
- Elisabeth Steffens, „Indigenous Peoples and Religious Freedom in Abya Yala, Latin America. Reflections from a European Point of View”, in: Asian Horizons. Dharmaram Journal of Theology, Vol. 13, No. 4, December 2019, S. 619-628;
- https://amerindiaenlared.org/contenido/17009/indigenous-peoples-and-religious-freedom-in-abia-yala-latin-america-reflections-from-a-european-point-of-view/ 15.5.2020
- https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/wir-sind-nur-gast-auf-erden-303135.html
Bilder:
Amazonia, Brazil. Bild von Sébastien Goldberg auf Unsplash, gemeinfrei
Erde mit Baby. Bild: Zeichnung von Marvin Fernando Martínez Rodrigues, Nicaragua. Bildrechte beim Künstler.
5. Juni 2020 || ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR