Wieder gehört
Aufgenommen im Jahr 1965, auf dem Höhepunkt der „Beatlemania“, wird es im Gesamtwerk der Beatles leicht übersehen. Dabei stellt es einen Wendepunkt im Schaffen der vier Musiker aus Liverpool dar, die sich mit Rubber Soul vom Pilzkopf-Image befreien.
Die Veränderung beginnt bei der Plattenhülle
Bevor Sie die Scheibe auf den Plattenteller legen, werfen Sie noch mal einen Blick auf die Hülle: Den Namen der Band sucht man vergebens, der Titel des Albums erscheint in seltsam geformten Lettern, die bereits die Ikonographie der Hippie-Ära vorwegnehmen. Wie dieser Schriftzug, so wirken auch die Gesichter von John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr merkwürdig gedehnt. Schon hier wird die unbändige Experimentierfreude deutlich, mit der die vier Musiker in Rubber Soul und den folgenden Alben ans Werk gehen und die schließlich im Meisterstück Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band (1967) ihren Höhepunkt erreichen sollte.
Dabei zeigt uns das Cover junge Männer im Studentenalter: Lennon und Starr sind mit damals 25 Jahren die ältesten Beatles, McCartney ist 23, Harrison erst 22 Jahre alt! Und doch gehen die vier im Oktober 1965 bereits als gereifte Musiker in die Aufnahmeräume der berühmten Abbey Road Studios. Schon bei Not a second time, das im Jahr 1963 auf ihrem zweiten Album erschienen war, bemerkte der verblüffte Musikkritiker William Mann in der ehrwürdigen Times, das Stück ende auf derselben äolischen Kadenz wie Gustav Mahlers Lied von der Erde. Zwei Jahre, drei Alben, etliche Konzerte und Tourneen später, nehmen die Beatles dann Rubber Soul auf.
Neue Töne
Das Eröffnungsstück Drive my car scheint noch nahtlos an die Vorgängeralben anzuknüpfen. Aber schon die folgende Lennon-Komposition Norwegian Wood bietet etwas völlig Unerhörtes: Erstmals auf einem Stück westlicher Pop-Musik kommt hier eine indische Sitar zum Klingen – gespielt vom oft unterschätzten Multiinstrumentalisten George Harrison. Mit seinen Stücken Think for Yourself und If I Needed Someone stellt er sein Kompositionstalent unter Beweis. Größere Bekanntheit erlangte freilich Paul McCartneys Liebesballade Michelle, die in ihrer Melodie und dem teilweise französischen Text Einflüsse von Juliette Greco und der Pariser Bohémienszene aufnimmt. Mit dem von amerikanischer Country-Musik inspirierten What goes on tritt erstmals auch Ringo Starr als Komponist in Erscheinung. Der Höhepunkt des Albums aber stammt aus John Lennons Feder: Mit In my life erschafft der kantigste und durch traumatische Erfahrungen in Kindheit und Jugend gezeichnete Beatle ein Kleinod der modernen Tondichtung, das die engen Kategorien von E und U sprengt. Der Songtext basiert auf einem langen Gedicht, in dem Lennon Eindrücke seiner Kindheit in Liverpool verarbeitete und dessen handschriftliches Manuskript sich heute in der British Library befindet. Der Mittzwanziger destillierte daraus Strophen, die geprägt sind von Nostalgie, Wehmut und Altersweisheit. Es verwundert nicht, dass der schon dem Tode nahe Johnny Cash für sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Album eine Version gerade dieses Beatles-Songs einspielte. Eine weitere hörenswerte Fassung nahm Beatles-Produzent George Martin mit James-Bond-Darsteller Sean Connery auf. Martin schuf auch das markante Klaviersolo in der Mitte der originalen Beatles-Aufnahme. Lennon hatte sich etwas nach Barock Klingendes für die mittleren acht Takte gewünscht. Das an Bach erinnernde Stück hat Martin zunächst in halber Geschwindigkeit und eine Oktave tiefer auf einem Klavier gespielt. Das Band wurde dann mit doppelter Geschwindigkeit abgemischt, so dass der charakteristische Cembalo-Sound zustande kam, der heute die Charakteristik von In my life prägt.
Selbst Karajan ist beeindruckt
Staunend hört man in den 14 Stücken des kurzen Albums Einfallsreichtum, Vielseitigkeit und Spielfreude der vier jungen Engländer, die scheinbar mühelos Rock, Gospel, Chanson, Country und sogar Barock zu einem neuartigen Klanggewebe verbinden. Sie haben keine Musikschule besucht, an keinem Förderprogramm teilgenommen und konnten seinerzeit nicht einmal Noten lesen. Und doch sollte Herbert von Karajan nach einer Unterhaltung mit Harrison und Starr zu seiner Frau Eliette sagen: „Nicht zehn Prozent meiner Musikleute verstehen so viel von Musik wie diese beiden Buben“. Wer Rubber Soul heute hört, kann sich vorstellen, dass die Berliner Philharmoniker ihrem Meister zähneknirschend recht gegeben haben. Sollte sich die Platte gerade nicht im Schrank finden lassen, kann auf dieser schön gemachten Internetseite in die Songs reinhören, Bilder aus der Zeit anschauen und ein kleines Making-Of-Video genießen. Den Link finden Sie hier.
In dieser Woche würdigt der WDR „eine der wichtigsten Band aller Zeiten“.
Hier finden Sie den Link zur Beatles-Woche.
Bilder
Luana De Marco auf Unsplash, gemeinfrei
badgreeb RECORDS auf Flickr, gemeinfrei
4. Mai 2020 || empfohlen von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR