Wollseifen – ein verlorener, aber nicht vergessener Ort in der Eifel
Wollseifen – Ein ehemaliges Dorf im heutigen Nationalpark Eifel mit einer wechselvollen Geschichte:
Zu erreichen ist dieser Ort nur zu Fuß, mit dem Fahrrad oder im Sommerhalbjahr an Wochenenden mit der Pferdekutsche, die in Vogelsang IP startet. Der kürzeste Weg führt vom Parkplatz an einem Kreisverkehr, der sich an der B 266 etwa auf der Hälfte der Strecke zwischen den Orten Einruhr und Gemünd gegenüber der Zufahrt zum Vogelsang-Gelände befindet. Von hier aus ist Wollseifen in etwa einer halben Stunde zu Fuß zu erreichen. Eine Bushaltestelle ist ebenfalls vorhanden. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann man von Köln oder Bonn aus mit der Bahn bis Kall fahren und dann weiter mit dem Nationalparkshuttle Richtung Vogelsang.
Der Weg führt zunächst durch den Nationalpark über die Dreiborner Hochfläche, einer Graslandschaft mit vereinzelten Sträuchern, Hecken und Bäumen. Im Spätfrühling leuchtet hier das Gelb der Ginsterblüte. Schon von weitem ist der Kirchturm von Wollseifen zu erkennen, dessen Dachspitze zwischen Bäumen hervorschaut. Nach etwa 20 Minuten erreichen die Besucherinnen und Besucher ein restauriertes Kapellchen am Wegesrand. Hier begann früher die Bebauung von Wollseifen. Auf dem Weg zur ehemaligen Kirche St. Rochus kommt man nur an wenigen Gebäuden vorbei, die meisten haben mit der alten dörflichen Bebauung nichts zu tun, sondern sind Reste ehemaliger militärischer Übungshäuser. Vom alten Dorf stehen heute nur noch der Kirchenbau, das alte Schulgebäude, das ursprünglich ein Stockwerk höher war, ein Trafo-Häuschen sowie die Kapelle. Nur noch wenige Mauerreste und einige vereinzelte Obstbäume deuten darauf hin, dass hier ein größeres Dorf mit zuletzt etwas mehr als 500 Einwohnern existiert hat.
Die Anfänge des Ortes gehen auf die mittelalterliche Rodungsphase des 12. bis 14. Jahrhunderts zurück. Ab 1660 besaß Wollseifen eine eigene Pfarrkirche mit Pfarrstelle. Dies bedeutete für die Bewohnerinnen und Bewohner eine große Erleichterung, entfielen doch weite Fußmärsche zur nächsten Pfarrei, für die Wollseifener bis dahin nach Olef, etwa 8 km entfernt. Seit dieser Zeit wurde auch eine Pfarrchronik geführt, die wichtige Ereignisse im Ort überliefert hat.
Das Leben in Wollseifen war, wie auch in anderen Eifeler Dörfern, von der Landwirtschaft geprägt. Die meisten Menschen bewirtschafteten etwas Land, hatten zwei, drei Kühe, Hühner, eventuell ein Schwein im Stall und betrieben neben der Viehhaltung etwas Ackerbau zur Selbstversorgung. Durch die Realteilung, das heißt die Aufteilung des Besitzes im Erbfall an alle Kinder zu gleichen Teilen, waren die Felder im 19. Jahrhundert teilweise winzig und lagen weit verstreut in der Flur. Daher waren viele Menschen auf weitere Einnahmequellen angewiesen, z.B. übten sie auch ein Handwerk aus als Schreiner, Maurer, Stellmacher, Schmied oder Strohdachdecker. Frauen hatten kaum andere Möglichkeiten, als bis zur Heirat als Magd oder als Haushälterin auf einem größeren Betrieb oder in der Kleinstadt zu arbeiten. Selbstverständlich halfen die Kinder bei der Ernte, beim Viehhüten und Versorgen der Tiere mit.
Einen ersten Innovationsschwung und Geldsegen brachte dem Dorf der Bau der Urfttalsperre, die damals größte Talsperre Mitteleuropas. Sie ging 1905 im wörtlichen Sinne „ans Netz“, da das aufgestaute Wasser über einen 2,7 km langen Stollen durch den Bergrücken des Kermeter ins Jugendstilkraftwerk Heimbach geleitet wurde und die Elektrifizierung der Nordeifel einleitete. Viele Wollseifener fanden beim Bau Arbeit. Außerdem kamen Arbeitskräfte aus Südeuropa in die Region, mieteten sich kleine Zimmer im Ort, belebten das Wirtshauswesen und die örtliche Wirtschaft. Einige blieben ganz „hängen“ und heirateten einheimische Frauen.
Der Erste Weltkrieg beendete erst einmal die guten Zeiten. Viele Männer mussten an die Front, nicht alle kamen zurück… Die katastrophale Lebensmittelversorgung in den letzten Kriegsjahren machte sich auf dem Lande zwar nicht so bemerkbar wie in der Stadt, doch nach dem Krieg erholte sich die Wirtschaft nur sehr schleppend, da an die Siegermächte Reparationszahlungen zu leisten waren. So mancher Wollseifener ging daher schmuggeln, da die Grenze zu Belgien nicht weit ist. Wie schon vor dem Ersten Weltkrieg, so entdeckte der Tourismus auch nach dem Krieg allmählich wieder die Region. Am Urftsee entstanden Wochenendhäuser, die Landwirte begannen Zimmer an die „Sommerfrischler“ zu vermieten.
Doch was damals niemand ahnte: Es waren nur noch wenige Jahrzehnte bis zum endgültigen Ende des Dorfes. Seinen Anfang nahm dieser Niedergang 1933 mit der Wahl Hitlers zum Reichkanzler und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Schnell kamen die Gerüchte auf, dass die Nationalsozialisten eine große Schulungsanlage in der Nähe des Dorfes errichten wollten. So manche Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner werden sicherlich auch jetzt wieder an den Wohlstand gedacht haben, den solche Großbaustellen für die Region mit sich brachten. Bereits 1934 erfolgte die Grundsteinlegung für die sogenannte „Ordensburg“ Vogelsang, eine Schulungsstätte für den Führungsnachwuchs der NSDAP. Einige Landwirte verloren dabei Grundbesitz, konnten sich aber durch die Entschädigungen neue Maschinen kaufen und die Landwirtschaft intensivieren. Die Nationalsozialisten begannen mit dem Bau weiterer Großprojekte in der Region, z.B. der Rurtalsperre oder einige Jahre später mit dem Westwall, krempelten aber auch die politischen Verhältnisse um und nahmen mit ihrer rassistischen Ideologie zunehmend auch Einfluss auf das soziale und gesellschaftliche Leben. Wollseifen sollte sogar zu einem nationalsozialistischen Musterdorf entwickelt werden. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen. Mit dem Überfall auf Polen 1939 begann Hitler-Deutschland den Zweiten Weltkrieg.
Wieder wurden Wollseifener an die Front geschickt, wieder mussten einquartierte Soldaten versorgt werden. Hinzu kamen umfangreiche Luftschutzmaßnahmen. Doch ernste Kampfhandlungen erlebte die Region erst in den letzten Kriegsmonaten ab Herbst 1944 mit dem Höhepunkt der Schlachten im Hürtgenwald im Winter 1944/45. Im Dezember 1944 und Januar 1945 wurde auch Wollseifen heftig beschossen. Dabei starben mehr als 40 Einwohnerinnen und Einwohner, da sich viele geweigert hatten, ihr Vieh alleine zu lassen und in die Evakuierung zu gehen. Nun mussten sie ihr Dorf verlassen.
Als die meisten Einwohnerinnen und Einwohner im Frühjahr und Sommer 1945 wieder zurückkamen, fanden sie einen etwa zu 70% zerstörten Ort vor. Der Wiederaufbau begann und Hoffnung auf eine bessere Zukunft machte sich breit. Doch dieses Gefühl dauerte nicht lange. Deutschland war inzwischen in Besatzungszonen aufgeteilt worden. Wollseifen lag nun in der Britischen Zone. Bis Ende 1945 sah es so aus, dass die Vogelsang-Anlage in der Nähe des Dorfes abgebrochen und teilweise als Baumaterial für den Wiederaufbau verwendet werden sollte. Doch im Frühjahr 1946 änderte die britische Militärverwaltung ihre Pläne. Militär sollte in Vogelsang stationiert werden und dort üben. Doch die für die Wollseifener schrecklichste Nachricht kam offiziell erst im August 1946. Zum 1. September sollte der Truppenübungsplatz „Camp Vogelsang“ geründet werden. Wollseifen lag in der zukünftigen Sperrzone und musste innerhalb weniger Wochen verlassen werden. Völlig schockiert versuchten die Familien, erst einmal provisorische Unterkünfte bei Verwandten oder Bekannten in den umliegenden Ortschaften zu finden, teilweise stellten die Kommunen ehemalige Reichsarbeitsdienstbaracken zur Verfügung. Viele wollten auch nicht glauben, dass es ein Auszug für immer werden sollte. Der Kampf um Entschädigung begann, denn nur so ließ sich schnell eine neue Zukunft aufbauen. Doch es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die letzten Entschädigungsgelder flossen.
1950 übernahm das belgische Militär das Camp von den Briten und baute es zu einem NATO-Truppenübungsplatz aus. Im ehemaligen Dorf Wollseifen wurden Straßenkämpfe geübt, schnell waren die allermeisten Gebäude dem Erdboden gleich gemacht. Ein Besuch des Ortes durch Zivilisten war so gut wie unmöglich. Erst mit der offiziellen Auflösung des Militärplatzes zum 31. Dezember 2005 war der Weg für die Allgemeinheit nach Wollseifen frei. Das Gelände des Übungsplatzes war nun Teil des Nationalparks Eifel. Sofort wurden Pläne diskutiert, wie man das Andenken an Wollseifen für die Zukunft bewahren sollte. Das war dem Traditions- und Förderverein Wollseifen ein besonderes Anliegen.
Mit Fördermitteln und der tatkräftigen, zupackenden Unterstützung von ehemaligen Wollseifenern und Fördervereinsmitgliedern wurde die Kirchenruine in einen „Ort der Stille“ umgewandelt, 2016 folgte die Eröffnung einer kleinen Dauerausstellung zur Geschichte des Dorfes im ehemaligen Schulgebäude. Sie ist kostenfrei und jederzeit zugänglich.
Wollseifen ist inzwischen ein interessanter Ort mitten im Nationalpark geworden, der nicht nur Geschichtsinteressierte, sondern auch Naturliebhaber anzieht. Ob man sich auf individuelle Entdeckungstour begibt, sonntags ab 13 Uhr mit Rangern des Nationalparks ab Vogelsang eine Rundwanderung dorthin macht oder in einer Gruppe eine kulturhistorische Wollseifenführung der Akademie Vogelsang IP bucht, es gibt viele Möglichkeiten, sich diesem Ort mit bewegter Geschichte zu nähern.
Der Chronik des Dorfes hat sich Gabriele Harzheim in einer Publikation gewidmet:
Gabriele Harzheim: Die letzte Karre Korn. Das ehemalige Dorf Wollseifen im Nationalpark Eifel, 2019. Erschienen im Eifelverlag mit der ISBN: 978-3-943123-36-4, Preis 14,90 €
Bilder:
Wollseifen in den 1930er Jahren. Foto: Archiv Förderverein Wollseifen e.V., Sammlung Sistig
Die ehemalige Kirche St. Rochus in Wollseifen. Foto: Archiv Vogelsang IP, Fotograf: Roman Hövel
Raum der Stille in der ehemaligen Wollseifener Kirche. Foto: Archiv Vogelsang IP. Fotograf: Dörte Stein
9. Juni 2020 || ein Beitrag von Gabriele Harzheim, Geographin und Volkskundlerin