Visionär einer neuen Gesellschaft: Peter Maurin – The Catholic Worker

In unserem Blog „Akademie in den Häusern“ ist ganz still und leise eine kleine Galerie liebenswerter kreativer Sonderlinge entstanden. Bisher vertreten: ein blinder Straßenmusiker im Wikingerkostüm, ein deutscher Beinahe-Beatle, ein kauziger Beatnik im Zen-Schneidersitz … Gerne stelle ich nun den katholischen „Sonderling“ Pierre Maurin in den Mittelpunkt, der das soziale Gesicht des Katholizismus im 20. Jahrhundert mitgeprägt hat und dennoch recht unbekannt blieb.

Ein französischer Bauersohn

Als Aristide Pierre Maurin am 9. Mai 1877 als erstes von 24 Kindern einer frommen Bauernfamilie im Languedoc geboren wurde, konnte niemand ahnen, dass der L‘Osservatore Romano und die New York Times einmal über seinen Tod berichten würden. Der Weg des kleinen Aristide in der agrarisch geprägten südfranzösischen Provinz schien vorgezeichnet. Doch die Ausbildung in katholischen Ordensschulen ebnete dem wissbegierigen Jungen den Weg zum Lehrerberuf an Pariser Gymnasien. Dort schloss sich der junge Maurin der links-katholischen Laienbewegung Le Sillon an. Wenige Jahre nach deren Verbot durch Papst Pius X. emigrierte Maurin 1909 nach Kanada, wo sein Versuch, als selbstversorgender Kleinbauer zu leben, an widrigen Umständen scheitert. Es folgen Jahre der ziellosen Wanderschaft, zahllose Gelegenheitsjobs auf Farmen, im Gleisbau, einem Bergwerk, als Hausmeister und Sprachlehrer. Schließlich landet Maurin, der seinen Namen mittlerweile anglisiert hat und sich „Peter“ nennt, völlig mittellos in New York, wo ihm ein Priester im Austausch für kleine Aushilfstätigkeiten ein paar Dollar zusteckt.

Die Vision einer neuen Gesellschaft

Immer wieder taucht Maurin in Manhattan auf, übernachtet in billigen Absteigen und auf Parkbänken, verstrickt fremde Menschen in Diskussionen und verbringt viel Zeit in öffentlichen Bibliotheken. Sein Lektürepensum ist enorm, seine Interessen breit gefächert. Ideologische Berührungsängste hat er keine: Maurin liest die Werke der Kirchenväter ebenso wie philosophische Abhandlungen, Artikel der katholischen Intellektuellen Chesterton und Belloc ebenso wie Texte sozialistischer und anarchistischer Theoretiker. Stets fertigt er kleine Exzerpte an, kondensiert Gedankengänge zu kompakten Texten, kombiniert sie miteinander und garniert sie mit knappen, schlagwortartigen Slogans, wie „Feuert die Bosse!“ oder „Jeder nehme weniger, sodass andere mehr haben!“ oder „Arbeiter sollen Gelehrte und Gelehrte Arbeiter sein!“ Diese Texte, die oft eine fast gedichtartige Form annehmen, trägt er auf den Straßen und Plätzen Manhattans vor oder schreibt sie auf kleine Zettel, die er an Passanten verteilt. Pausenlos lesend, schreibend und diskutierend entwickelt Maurin seine eigene Theorie der Gesellschaftsreform, aus der er drei Forderungen ableitet: Öffentlich geführte Diskussionsrunden sollen zur „Klärung der Gedanken“ über die relevanten Fragen der Zeit beitragen. Sodann sollen in den Städten „Häuser der Gastfreundschaft“ entstehen, in denen Obdachlose Essen, Kleidung und ein Zuhause finden können. Auf dem Land sollen landwirtschaftliche Kommunen Arbeit außerhalb des kapitalistischen Lohnsystems schaffen und die Versorgung sichern. Maurins Vision: Ohne Zwang, allein aus Einsicht und Nächstenliebe sollten Menschen im Schoß der alten Gesellschaft eine neue schaffen, in der es ihnen leichter falle, gut zu sein.

Eine folgenreiche Begegnung

Aber die Realisierung seiner Vorstellungen ist unerreichbar für diesen Mann, der keine akademische oder politische Position bekleidet, der nicht einmal über ein regelmäßiges Einkommen und ein ordentliches Zuhause verfügt. So droht Maurin während der Großen Depression als einer der vielen Phantasten zu enden, die auf Seifenkisten stehend flammende Reden an die Nation halten. Aber trotz seiner prekären gesellschaftlichen Stellung verfügt Maurin über ausgezeichnete Kontakte, trifft sich mit Professoren und diskutiert mit dem Gründer der Ratingagentur Moody‘s.

Der Herausgeber eines katholischen Magazins gibt Maurin einen entscheidenden Tipp: Auf der East 15th Street lebe Dorothy Day, eine Journalistin, deren Gedanken den seinen verwandt seien. Maurin sucht sie auf und findet eine Mittdreißigerin, die lange Zeit in literarischen Zirkeln verkehrt und für kommunistische Blätter geschrieben hatte, dann aber überraschend zum Katholizismus konvertiert war und nun nach einer neuen Bestimmung für ihr Leben sucht. Maurin erkennt seine Chance und präsentiert der überrumpelten Day seine Sicht der Dinge. Beginnend bei den Propheten des alten Israel spannt er seinen Bogen über die Wüstenväter und die iro-schottischen Wandermönche, Franz von Assisi und Thomas von Aquin bis zur Soziallehre der Päpste und den russischen Anarchisten. „Er kam mit dem heiligen Franziskus in der einen und Kropotkin in der anderen Tasche. Und er konnte einen taub, stumm und blind reden“ wird Day sich später an die Begegnung mit Maurin erinnern.

Eine Bewegung entsteht

Doch der unerwartete Gast zeigt Day die Lebensperspektive auf, nach der sie so leidenschaftlich gesucht hatte. Gemeinsam gründen sie die Zeitung The Catholic Worker, die erstmals am 1. Mai 1933 erscheint und nicht zuletzt Maurins Ideen verbreitet. Im Umkreis der Zeitung entsteht schon bald eine Bewegung, die ein erstes Haus der Gastfreundschaft in Manhattan eröffnet, um Obdachlose zu beherbergen und Mahlzeiten auszugeben. Maurin bringt alte Bekannte von der Straße mit, aber auch Professoren, Priester und Intellektuelle, die er während seiner langen Wanderjahre kennenlernte. Diese halten nun Vorträge und stellen sich der Diskussion. Selbst der französische Philosoph Jacques Maritain kommt zu Besuch und zeigt sich vom Engagement der Catholic Worker begeistert. Nur wenige Jahre später kann die Gruppe außerhalb von New York City auch eine Farm erwerben und nach Peter Maurins Vorstellungen betreiben.

Während der 1930er Jahre wächst die Auflage der Zeitung, und Maurins Ideen finden immer mehr Anhänger. In zahlreichen Städten bilden sich Catholic Worker-Gruppen, die Häuser der Gastfreundschaft eröffnen und sich um Menschen am Rande der Gesellschaft kümmern. Maurin reist rastlos durch die Vereinigten Staaten, hält Vorträge und lässt sich in endlose Gespräche verwickeln. Keine Anstrengung und kein Rückschlag scheinen ihn zu entmutigen. „Ich weiß wie tief verwurzelt das Übel ist“ gibt sich Maurin gleichmütig.

Eine Idee, die bis heute Kreise zieht

Aber die Anstrengungen fordern ihren Preis. 1944 erleidet Maurin einen leichten Herzinfarkt und verliert in der Folge zunehmend sein Erinnerungsvermögen. „Ich kann nicht mehr denken“ klagt er, stellt die Produktion neuer Texte ein und zieht sich zunehmend von den Aktivitäten des Catholic Worker zurück. Am 15. Mai 1949, dem Jahrestag der großen Sozialenzyklika Rerum Novarum, stirbt Maurin. Zahlreiche Menschen erweisen ihm die letzte Ehre, nationale Leitmedien und sogar der päpstliche Osservatore berichten.

Angetrieben von der rastlosen Dorothy Day entwickelt sich die Catholic-Worker-Bewegung weiter und besteht auch nach ihrem Tod im Jahr 1980 fort. Über 200 Catholic Worker-Gruppen existieren heute in den USA, Europa, Australien und Neuseeland. In Deutschland berufen sich etwa die Diakonische Basisgemeinschaft „Brot & Rosen“ in Hamburg und die Dortmunder „Suppenküche Kana“ auf Peter Maurin und Dorothy Day. Während aber mittlerweile ein Kanonisierungsverfahren für Day läuft und sie die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus als Glaubenszeugin gepriesen haben, ist Maurin weitgehend unbekannt geblieben. Dabei ließ seine gelehrige Schülerin nie einen Zweifel daran, dass er der eigentliche Gründer der Catholic Worker-Bewegung war und zudem „heiliger als irgendjemand, den wir je gekannt haben“.

Einer Kirche, mit der viele hadern, kann Peter Maurin auch heute noch Orientierung geben mit seinem erstaunlichen Lebensweg und seinem selbstlosen Einsatz für die große, verwegene Vision einer Gesellschaft, in der es einfacher ist, gut zu sein.

Bilder:

  • Christ of the Breadline. Wandbild am Catholic Worker House Los Angeles, basierend auf einem Holzschnitt des Künstlers Fritz Eichenberg. Bild von Laurie Avocado auf Flickr, CC BY 2.0
  • Peter Maurins Geburtshaus in Oultet (Frankreich). Bild von Noël Henry auf Wikipedia, CC BY-SA 4.0
  • Dorothy Day & Peter Maurin, Bild von Jim Forest auf Flickr, CC BY-NC-ND 2.0
  • Peter Maurin, Bild von Jim Forest auf Flickr, CC BY-NC-ND 2.0

15. Mai 2020 || ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR