„Wofür das Ganze?“ – Vom Rennrad, Zielen und Achterbahnen
Nachdem in den letzten Monaten vieles anders war, in der Kunst- und Kulturszene, auch in unser aller Privatleben, könnte man bei einem Blick aus dem Fenster und auf die Straßen manchmal den Eindruck haben, dass das Fahrrad sowohl als umweltschonendes Transportmittel als auch als Sportgerät außerhalb von der Enge von Fitnessstudios einen regelrechten Boom erlebt.
Immer mehr Menschen erkunden nun ihre direkte Umgebung, nachdem Oster- und Sommerurlaube an fernen Zielen nicht möglich sind. Das Fahrrad ist hierbei eine Möglichkeit, ganz bewusst zu reisen und sich in der Natur zu bewegen. Was macht es mit der Psyche von Profisportler*innen, denen nun im Training auf Grund von abgesagten Rennen das konkrete Ziel für das Training fehlt, und die sich fragen: „Wofür nun das Ganze?“.
Hendrik Werner, den es nach seinem Sportstudium ins Rheinland zog, wurde 2014 als Trainer des Schweizer Profirennstalls IAM engagiert. 2017 wechselte er zum Team Sunweb um Giro d’Italia-Sieger Tom Dumoulin. Seit dieser Saison ist er bei dem deutschen Team Bora-Hansgrohe unter Vertrag, für das unter anderem auch die Fahrer Emanuel Buchman und Peter Sagan fahren.
Hendrik, welche Auswirkungen hatte die Pandemie für dich und dein Team? Wie, würdest du sagen, hat sich die Situation innerhalb der letzten Monate bis heute gewandelt?
Diese Zeit habe ich in mehreren Phasen erlebt. Zunächst stand man vor der Frage „Was ist das denn jetzt und für wie lange ist das jetzt so? Hoffentlich nicht mehr als zwei Wochen“. Aus diesem ersten Prozess resultierten erstmal noch keine großen Verhaltensänderungen, man konnte sich noch nicht vorstellen wie lange das gehen sollte. In dieser Phase entwickelte sich auch ein gewisser „Hunger“ nach den immer neusten Nachrichten und Entwicklungen.
Auf das Training bezogen würde ich sagen, dass hier nun die ganz kurzfristigen Ziele vielleicht weg oder verändert waren, die mittel- und langfristigen aber weiterhin gleich blieben. Dann merkte man, dass die neue Situation doch länger anhält als man zunächst dachte, in der zweiten Phase kam vielleicht bei einigen der Gedanke auf „Macht das eigentlich Sinn, dass ich hier weiter an meinem normalen Leben festhalte?“, „macht das Sinn, weiter zu hasten – ist es vielleicht an der Zeit innezuhalten und zu reflektieren?“ Dann merkte man irgendwann, dass das alles noch viel größer und weitreichender ist, selbst mittel- und langfristige Ziele sind nun mit einem Fragezeichen versehen, was Ort, Ziel oder Zeit angeht, hier waren plötzlich keine Ziele mehr da – dann kamen Fragen auf wie: „Wofür mache ich das eigentlich, jeden Tag aufzustehen. Immer wieder aufs Neue anzustrengen und wie weit soll ich mich eigentlich anstrengen, wenn da in ein paar Wochen doch gar nichts ist – Jetzt wo Ziele weg sind, warum steige ich hier eigentlich jeden Tag auf dieses Fahrrad? Da sind bei den Fahrer*innen ganz unterschiedliche Haltungen und Reaktionen zu Tage getreten.
Man kann ja den Prozess als das eigentliche Ziel betrachten, wenn man es so angeht braucht man auch niemanden der das misst und festhält – in diesem Fall macht das Ding alleine schon so viel Freude, warum sollte ich mich aufgrund der Umstände zurück nehmen? Hinter jedem und jeder steht dann eine andere Haltung, und eine andere Motivation für eine Herausforderung, brauche ich den Wettkampf mit anderen, wieder andere lieben das Fahren an sich.
Wie bist du mit diesen unterschiedlichen Charakteren und Einstellungen umgegangen?
Ich bin da mit viel Freiheit und Freiraum abseits der Routine für die Fahrer rangegangen. Auch ich habe ja keine Antwort darauf, was uns und sie erwartet und wann beispielsweise wieder Rennen stattfinden. Hier kann helfen, sich eigene Ziele zu setzen, geistig wie körperlich weiter zu arbeiten, oder sich auch erstmal ein fiktives Ziel setzten. Hier sind hochgradig unterschiedliche Haltungen entstanden, wie man mit der Verwirrung und Unsicherheit umgeht. Dann kam es sehr darauf an, wie man mit der darauf möglicherweise entstehenden Angst umgeht: vielleicht bemitleidet man sich selbst und fragt, warum es nun gerade einen selbst trifft oder man akzeptiert das Gegebene und wird dann kreativ. Ich habe versucht, hier eine Begleitung zu sein, bei dem was die Fahrer*innen jeweils suchen. Klar standen viele vor Problemen und sind damit unterschiedlich umgegangen, kaum jemand hat es dann allerdings geschafft, sich nun die 8 oder 10 Wochen lang selbst zu bemitleiden.
Welche Relevanz haben Ziele für dich?
Wenn man sich mit Zielen beschäftigt, auch solchen die nun vielleicht wegbrechen, ist das eigentlich Spannende, dass hinter ihnen oder an den vermeintlichen „Zielen“ selbst nie das auf einen wartet, was man erwartet oder antizipiert hat. Die gesamte Welt ist immer noch die gleiche und die eigentliche Freude liegt für mich viel mehr auf dem Weg dahin. Das, was man an Selbstdisziplin oder Überwindung aufbringt und man vielleicht vorher so nicht erwartet hat, das ist das, worauf man später zurückblickt und dann auch Stolz empfindet. Aber man braucht die Ziele im Kopf nun eben dann doch auch für den Weg dahin. Dieses Jahr war auch im Radsport vieles auf Olympia ausgerichtet, da fühlten dann Leute schon eine gewisse Leere. Dann bedarf es entweder der Mentalität „Der Weg ist das Ziel“ oder man setzt sich selbst neue Ziele.
Diese Perspektiven auf Ziele lassen sich ja auf eigentlich alle Menschen übertragen, das gilt ja nicht nur im Profi (Rad-)Sport
Klar, das ist übertragbar auf alle Menschen – diese Unsicherheit kann dir niemand nehmen. Wenn es einem nicht gelingt, diese Verunsicherung oder auch Verzweiflung und das Denken von „warum ausgerechnet ich“ abzulegen, wird daraus eine Angst. Wenn man es aber schafft, diese Unsicherheit zu akzeptieren, steckt da viel Potenzial drin!
Wenn man aber am Wunsch nach Sicherheit festhält, kann einen das sehr ängstlich machen. Wenn ich einmal akzeptiert habe, dass ich über gewisse Dinge keine Kontrolle habe, dann darf ich auch aufhören, sie zu erlangen. Das fällt aber vielleicht einigen schwerer als anderen. Entweder man erreicht sein Ziel oder nicht, beides ist dramatisch – daher kann es immer nur Zwischenziele geben aber kein finales Ankommen. Ob im „normalen“ Leben oder der Fahrradkarriere, da wartet nun niemand der sagt „Top, und jetzt hast du gewonnen“ in diesem Spiel!
Ich sehe in meiner Umgebung immer mehr Menschen das Rennrad ausprobieren, inwieweit ist das vielleicht auch eine Chance für den Radsport, generell ein besseres Image zu erlangen, dadurch dass nun die Leute Fahrradfahrer*innen wieder mehr als direkte, sportliche Vorbilder sehen und sich mit ihnen identifizieren?
Ich beobachte in den letzten Wochen ganz neue Dynamiken auf dem Radweg, viele unbekannte Gesichter auf den Strecken, auch E-Bikes und damit einhergehend natürlich auch viele neue unvorhergesehene Situationen. Vielleicht muss man da auch mal mehr klingeln und sich an neue Situationen gewöhnen. Ein neues Bewusstsein für Abstände in dieser Zeit hilft uns auf dem Rad vielleicht auch im Straßenverkehr, dazu war auch deutlich weniger anderer Verkehr in Form von Autos und LKWs auf den Straßen. Ich persönlich freue mich total über neue Radfahrer*innen und auch über neue Dynamiken auf den Fahrradwegen und Strecken. Ich finde es schön, neue Gesichter zu sehen und muss nicht meinen Schnitt hochhalten und mich über Menschen ärgern, die vielleicht langsamer fahren und an ihnen vorbeibrettern.
Einige Leute waren bis jetzt immer die schnellsten auf dem Radweg und jetzt sind da Menschen, vielleicht auch mit E-Bikes, die gleichermaßen schnell fahren…da meldet sich bei einigen dann jetzt das Ego. Eigentlich müsste die Perspektive doch aber sein: Einen Finger auf den E-Bike Fahrer und zwei auf dich selbst zurück mit der Frage: „Warum ist das jetzt eigentlich ein Problem für mich?“
Ich freue mich daher und bin fast dankbar, dass ich auch ein bisschen gebremst werde und dadurch daran erinnert werde, dass ich hier nicht auf der Flucht bin. Das Fahren mit Tacho oder Apps wie Strava verleitet einen dazu, nur einen bestimmten Geschwindigkeitsschnitt zu sehen, Fortschritt zu messen. Das ist aber ja eigentlich ein totales Ego-Ding, das Credo ist immer nur „mehr“. Ich bin dankbar, dass man durch die aktuelle Situation gespiegelt kriegt: „Wofür bringe ich mich und andere da eigentlich in Gefahr“, nur für den Schnitt? Sobald der Schnitt dann aber eh nicht mehr „zu retten ist“ genießt man auch viel mehr im Moment selbst.
Für mich persönlich muss ich sagen, ich liebe sowohl die Langeweile und Monotonie auf dem Fahrrad als auch mich dabei zu beobachten, welche Gedanken dann kommen. Das passiert zumindest mir nicht, wenn ich einfach auf der Couch sitze und auch nicht, wenn ich, um Andere zu beeindrucken, meinen Schnitt hochhalten muss. Ob das Ganze nun aber dem Image des Radsports hilft, kann ich so nicht beantworten. Ich könnte mir aber schon vorstellen, dass man im Fernsehen nun eher ein Radrennen wie die Tour de France ansieht. Aber ob sich dann das Image positiv wandeln wird, kann ich nicht sagen.
Hast Du Tipps für (Neu) Radsport-Fans im Bergischen und im Kölner Umland?
Für mich persönlich muss ich sagen, dass ich am meisten Freude an Strecken habe, die Achterbahn-Charakter haben. Apps wie Strava sind gut, da sie einem die beliebteste Routen zeigen. So sieht man Dinge die man nie gesehen hat und wird an neue Orte geleitet. Da ist ganz viel Neues, auch direkt neben deiner Tür, wo es lohnt, vorbei zu fahren. Tolle Ausblicke von denen man gar nicht weiß.
Die meisten Promis im Radsport sind ja immer noch männlich, kannst du aus deiner Erfahrung aus Unterschiede im Umgang mit Herausforderungen feststellen und vielleicht auch einige der weiblichen Leserinnen motivieren das (Rennrad) fahren mal auszuprobieren?
Auch meine Beobachtung ist, dass jetzt super viele Frauen auf dem Rad unterwegs sind. Das haben auch Freunde so beobachtet. Ich habe das Gefühl, dass Frauen tendenziell weniger den Drang verspüren sich gegenseitig zu zeigen, wie stark oder fit sie sind. Der Radsport bietet vielleicht auch die Chance, als Gruppe zu fahren, auch wenn Leistungsunterschiede innerhalb der Gruppe bestehen. Anders als bei Sportarten wie Joggen, wo man zum gemeinsamen Sport eher auf einem Fitnesslevel sein muss, kann man sich beim Radsport als Gruppe helfen und aneinander anpassen – durch Windschattenfahren beispielsweise.
Auf der Profiebene, genauso wie in anderen Sportarten, werden Frauen leider weniger gezeigt, aber es gibt natürlich eine Menge Frauen, genauso in Profiteams, die aber im TV weniger sichtbar sind.
Lieber Hendrik, vielen herzlichen Dank für das spannende Gespräch!
Bild Hendrik Werner © Team BORA – hansgrohe
Titelbild und Beitragsbilder: unsplash, gemeinfrei.
4. Juni 2020 || ein Interview von Julia Steinkamp