Lieblingskirche: Santa Maria dei Miracoli
Santa Maria dei Miracoli – das Schmuckkästchen Venedigs: die Kunsthistoriker Judith Graefe und Dr. Andres Thiel nennen sie ihre Lieblingskirche. So verdanken wir den beiden einen doppelten Blick auf die kleine Kirche. Beide nähern sich der Kirche der „Heiligen Mutter Gottes der Wunder“ durch das Gewirr der Gassen der Lagunenstadt. Eine wunderbare Gelegenheit mit Text und Bildern, ihren Raum, ihre Geschichte, ihre Kunst und ihre Atmosphäre zu erspüren.
Santa Maria dei Miracoli – von Judith Graefe
Durch eine kleine Gasse, durch noch eine kleine Gasse, noch eine… Die große und prächtige Piazza San Marco mit Dogenpalast, mehrmals eingestürztem Campanile und einer großen Menge Tauben und Touristen muss man ein gutes Stück hinter sich lassen. Schließlich öffnet sich ein kleiner Platz, der Campo Maria Nova. Kleine Geschäfte, kleine Cafés, kein Englisch, Japanisch oder Deutsch ist nicht mehr zu hören, nur noch Italienisch. Jenseits der kleinen Freifläche mit Bänken und Bäumen in der Mitte befindet sich eine der vielen kleinen Brücken, die ihren Beitrag leisten, Venedig zu einem der malerischsten Orte der Welt zu machen. Und dahinter taucht sie auf: Santa Maria dei Miracoli, die kleine Kirche der Wunder.
Ihren Namen verdankt sie einem kleinen Marienbild. In der Mitte des 15. Jahrhunderts ließ der lombardische Kaufmann Angelo Amadi eine Madonnenikone an einer Ecke seines Privathauses anbringen. Es hatte nicht nur Andachtsfunktion, bald schrieb man ihr auch Wundertätigkeit zu. Immer häufiger fanden sich Menschen am Madonnenbild ein und baten um Hilfe, zunächst waren es die Bewohner des Viertels, dann entwickelte sich die unscheinbare Hausecke fast zu einem Pilgerort. So war der Aufstellungsort des Bildes bald nicht mehr angemessen, eine Kirche musste her, ein Gebäude, das dem wundertätigen Bild würdig ist.
Der Bildhauer und Baumeister Pietro Lombardo, der sich in Venedig bereits einen Namen gemacht hatte, nahm sich des Projektes zusammen mit seinen Söhnen Tullio und Antonio an. Er hatte einen kleinen, fast rechteckigen Bauplatz zur Verfügung, und er entschied sich, diesen nicht vollständig auszufüllen. Eine luxuriöse Entscheidung, war doch in Venedig Bauplatz wertvoller als Gold. So errichtete er in der Rekordzeit von nur acht Jahren eine Kirche, die vorne und hinten einen kleinen Platz erhielt, auf der einen Seite von einem Sträßchen begrenzt wird und auf der anderen Seite mit den Füßen im Rio dei Miracoli steht.
Blickt man heute vom kleinen Campo dei Miracoli auf die Hauptfassade, drängt sich fast der Eindruck eines Schmuckkästchens auf. Oben wie ein Deckel mit einem Segmentbogen abgeschlossen, der nahtlos in das tonnengewölbte Dach übergeht, präsentiert sich die Fassade lückenlos in verschieden farbigem Marmor mit eingelegten Intarsien aus Porphyr.
Tritt man ein in dieses architektonische Schmuckkästchen, findet man große und kleine Schätze. Der Blick nach oben offenbart ein komplex kassettiertes vergoldetes Tonnengewölbe, welche verschiedene Heiligenbilder rahmt, die Wände sind lückenlos mit den verschiedensten Arten Marmor verkleidet, jede Stütze ist aufwändig reliefiert. Doch darf man sich von dieser Pracht nicht am Eingang stoppen lassen. Jeder Schritt offenbart weitere kleine Besonderheiten. Steigt man zum höher gelegenen überkuppelten Presbyterium hinauf, wandert der Blick an dutzenden märchenhafter Wesen entlang, die als filigrane Reliefs in die Balustrade eingelassen sind. Es sind die phantastischsten Wesen des Himmels und des Meeres. Wie passend, handelt es sich doch um ein Gebäude, welches auf dem Boden der Lagunenstadt steht und in sich die Wunder des Himmels trägt.
So ist die Santa Maria dei Miracoli in Venedig für mich ein wahrer Ort der Wunder und nicht nur die Ponte dei Sospiri, die Seufzerbrücke, ein Ort des Seufzens.
Santa Maria dei Miracoli – von Dr. Andreas Thiel
„Und dann, plötzlich und unerwartet, steht man mitten im Gewirr der Gassen von Castello, nur wenige Schritte von Rialto und Zanipolo vor einem Wunder der Baukunst, der ‚Santa Maria dei Miracoli‘…“
Begleiten Sie Dr. Andreas Thiel durch Venedig zu seiner Lieblingskirche:
Titelbild: © pexels, Brett Sayles
Welche ist Ihre Lieblingskirche? | Unsere Reihe in der Fastenzeit
Kirche besitzen eine hohe Anziehungskraft und meist eine besondere Atmosphäre. Kirchliche Räume wirken und man spürt, dass sie zur Besinnung, zum Innehalten, Nachdenken und Gebet einladen. Sie sind Bauwerke, denen man sich kaum entziehen kann und sie bewegen etwas in einem. Menschen nehmen diese – selbstverständlich individuell verschieden – wahr. Oft gibt es eine besondere Kirche, mit der man etwas verbindet, in der man sich besonders willkommen und wohl fühlt. In der Fastenzeit fragen wir Menschen, die mit der Akademie verbunden sind, nach ihrer Lieblingskirche. Die Beiträge lesen Sie an den Fastensonntagen 2023.
2. April 2023 || Beiträge von Judith Graefe, Akademiereferentin Erkundungen, und Dr. Andreas Thiel, Kunsthistoriker und Archäologe
Dr. Andreas Thiel reist mit Ihnen nach Venedig:
27. November bis 4. Dezember 2023 (Mo.-Mo.)
Jenseits von San Marco
Venedigs versteckte Schönheiten
Am 1. Dezember führt ein Spaziergang vom Arsenal durch das volkstümliche Viertel zur Dogenkirche Santi Giovanni e Paolo und zum kleinen Renaissance-Juwel Santa Maria dei Miracoli.