Mit offenem Ohr. Über die Herausforderungen und Aufgaben der Militärseelsorge
Uwe Rieske war von 2011 bis März 2018 Landespfarrer für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland. Ab April 2018 ist er Militärdekan im Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe in Bonn.
Herr Pfarrer Rieske, Sie sind seit zwei Jahren Militärdekan der Evangelischen Kirche im Bereich des Bundesverteidigungsministeriums in Bonn. Wie hat man sich die Aufgaben eines Militärdekans vorzustellen?
Wir sind zuerst einmal damit befasst, Seelsorge und Gottesdienste für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr anzubieten; auch gehört der Lebenskundliche Unterricht zu unseren Aufgaben, der zur ethischen Orientierung für auf den Schutz der Menschenwürde ausgerichteten Dienst an der Waffe beitragen soll. Bei den Soldatinnen und Soldaten sehr beliebt sind die Rüstzeiten der Militärseelsorge, wo wir dann für einige Tage mit den Soldatinnen und Soldaten oder mit Ehepartnern oder Familien wegfahren, um die Kameradschaft, aber auch das Miteinander untereinander zu stärken.
Militärseelsorge kümmert sich um die Soldatinnen und Soldaten, aber auch um die weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Militärstandorten. Was sind die besonderen Herausforderungen bei dieser Arbeit?
Die Herausforderungen sind sehr vielfältig. Zum einen ist es so, dass viele Bundeswehrangehörige – und jetzt meine ich auch die zivilen, für wir uns genauso zuständig fühlen – nicht wohnortnah beschäftigt oder eingesetzt sind. Das heißt, für sehr viele Bundeswehrangehörige gibt es zwischen Dienstort und Wohnort viele Kilometer Distanz. Dieser Spagat zwischen den Erfordernissen des Dienstes und der Familie ist eine Herausforderung, die Soldaten vielfach betrifft, zumal sie in der Regel innerhalb von zwei Jahren auch eine andere Beschäftigung innerhalb der Bundeswehr finden. Wer im beruflichen Werdegang vorankommen will, muss sich in der Verwendbarkeit flexibel zeigen, verschiedene Erfahrungen gemacht haben und das kann das Familienleben stark belasten.
Das heißt, es sind nicht nur die Mitarbeiter vor Ort im Blick, also die Soldatinnen und Soldaten sowie die sonstigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern man muss gleichzeitig das gesamte familiäre Umfeld mitdenken?
Das muss man auf jeden Fall. Und man muss auch mitdenken, dass die Bundeswehr im Moment in vielen Auslandseinsätzen engagiert ist. In einen Auslandseinsatz zu gehen bedeutet, vier bis sechs Monate und manchmal länger von der Familie und dem persönlichen Umfeld und vom Dienstort entfernt zu sein. Und das in Afghanistan oder in Mali unter unwirtlichen Bedingungen in einem Camp im durchaus gefährlichen Umfeld nicht nur auf die eigene Sicherheit, sondern auch auf die der Kameradinnen und Kameraden bedacht zu sein, um den Auftrag zu erfüllen. Das sind Anforderungen, die mit dem, was zu Hause an der „Heimatfront“ bei der Familie passiert, oftmals nur schwer kompatibel zu stellen sind.
So ist ein Militärdekan, ein Militärpfarrer oft ein Mittler zwischen denen, die weit weg sind und denen, die zu Hause den Alltag bewältigen.
Wir haben zunächst einmal ein offenes Ohr. Unsere Türen sind offen, wo jeder und jede mit dem, was sie oder ihn bewegt und beschwert, zu uns kommen kann. Das reicht von Seelsorge im Alltag, von Ehe- und Familienproblemen bis hin zu den gerade berührten Fragen der Entfernung zwischen Dienstort und Arbeitssort, Umgang mit Auslandseinsätzen … Das Wichtigste bei uns ist, das – wenn jemand eintritt und die Tür schließt, sie auch zu bleibt. Das heißt, wir können Vertraulichkeit nicht nur zusichern, sondern es ist Teil unseres Dienstes, dass, was bei uns gesprochen wird, im Raum bleibt. Es sei denn, die Menschen, die hier waren, wollen das anders und bitten, dass wir uns für sie verwenden. Und da kann es durchaus sein, dass man an der einen oder anderen Stelle schon einmal mit einem Vorgesetzten spricht.
Sie haben ja, bevor Sie dieses Amt übernommen haben, sieben Jahre die Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland koordiniert und selbst auch zahlreiche Einsätze als Notfallseelsorger gefahren. Helfen Ihnen bei Ihrer jetzigen Tätigkeit die Erfahrungen aus der Notfallseelsorge?
Ja, an vielen Stellen! Auch Soldatinnen und Soldaten werden mit dem Lebensbereich Sterben, Tod, Trauer konfrontiert. Auch die Belastungen der Soldatinnen und Soldaten, die im Ausland waren, sind teilweise immens. Eine große Zahl von ihnen gelten in der Sprache der Bundeswehr als „einsatzgeschädigt“, weil sie unter einem Psychotrauma leiden oder eine körperliche Verletzung davongetragen haben. Insbesondere diese Soldaten zu begleiten, aber auch zu schauen, welche Auseinandersetzung dieses besonders Berufsbild mit sich bringt, das darauf abzielt, Frieden zu sichern, indem man das eigene Leben und die eigene Unversehrtheit einsetzt, um das Vaterland und die Menschen die hier leben, zu verteidigen – auch dann, wenn diese die Bundeswehr ablehnen – das ist schon besonders. Die Härten, die der Gebrauch von Waffen mit sich bringt, haben vielfach auch Berührungsflächen mit dem, was ich früher in der Notfallseelsorge gemacht habe.
Auch die Bundeswehr ist von der Corona-Pandemie betroffen. Die Bundeswehr unterstützt in vielen Fällen. Aber die Pandemie führt auch dazu, dass Soldatinnen und Soldaten in Quarantäne müssen. Ist dabei Seelsorge besonders herausgefordert? Wie sieht Seelsorge ohne Begegnung und Nähe aus?
Begegnung und Nähe findet trotzdem statt. Sie ist manchmal nicht an die regionale Nähe gebunden, sondern kann auch andere Formate nutzen. Zunächst einmal ist die Bundeswehr in einer dreifachen Herausforderung: Sie muss vor allem ihre Verteidigungsfähigkeit im Rahmen internationaler Bündnisverpflichtungen und im Landesinneren erhalten. Es muss Sorge getragen werden, dass möglichst wenige Soldatinnen und Soldaten sich infizieren, damit die Verteidigungsfähigkeit uneingeschränkt gewahrt bleibt. Es braucht daher ein ständiges Screening und ein besondere Sorgfalt in den Infektionsschutz- und Quarantänebestimmungen. Das zweite ist, die Bundeswehr ist zu vielen Aufgaben im zivilen Bereich angefordert und erfüllt diese zusätzlich zu ihren üblichen Aufgaben. Die Federführung liegt hier bei der Streitkräftebasis, die 15.000 Soldaten zur Erfüllung von besonderen Aufgaben herangeziehen kann. Dies zu koordinieren ist eine erhebliche Aufgabe, die neben dem üblichen Dienst der Bundeswehr mitläuft. Und zum dritten gibt es auch persönliche Härten, die einen selbst betreffen. Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten sind es nicht immer gewöhnt, mit Dienst im „Homeoffice“ umzugehen oder vor einem Auslandseinsatz 14 Tage in Quarantäne zu gehen. Quarantäne bedeutet, alleine 14 Tage lang auf dem Hotelzimmer, statt bei der Familie zu sein und dann in den Flieger nach Afghanistan zu steigen. Das sind Härten, mit denen die Bundeswehr im Moment konfrontiert ist und wir versuchen als Militärseelsorge, das Ohr so gut es geht, offen zu halten und die tatkräftig zu unterstützen, die Seelsorge, Unterstützung und Begleitung brauchen.
Das bedeutet, dass Soldatinnen und Soldaten in Quarantäne sind und das Leben „draußen“ weiter geht, ohne dass sie daran teilnehmen können, und nicht nur das Leben, sondern auch das Krank sein von Angehörigen und Sterben.
Das bedeutet es ohnehin bei Auslandseinsätzen. Je nachdem, wo man im Auslandseinsatz ist, ist die Rückkehr nach Hause nur in besonderen Fällen möglich, weil dieses auch mit dem Dienstbetrieb im Auslandseinsatz, mit den Ausreise- und Transportmöglichkeiten, mit Sicherheitsfragen usw. auszutarieren ist. In der Quarantäne kann es bedeuten, dass ein persönliches Leid in der Familie im Moment nicht mit begleitet werden kann, auch kann man vielleicht nur wenige Kilometer von der Familie entfernt zur Tatenlosigkeit bestimmt sein. Wenn der Auslandseinsatz bevor steht, kann man nicht zu Hause das kranke Kind trösten, das den Papa vermisst oder auch ein sterbendes Familienmitglied besuchen. Dies sind oft persönliche Härten, die mit dem Alltag als Berufssoldat einhergehen.
Herr Dr. Rieske, wir danken Ihnen sehr für das informative Gespräch.
Als gemeinsames Tagungsprojekt veranstaltet die Akademie und der Bund Deutscher Kriminalbeamter mit dem Militärpfarramt Bonn II vom 18. bis 20. April 2021 die Internationale Fachtagung „Wenn Kinder Tod und Gewalt erleben… Erfahrungen, Opferschutz, Unterstützungsangebote“.
Bild: U. Rieske (privat)
Titelbild: unsplash, gemeinfrei
9. Mai 2020 || Das Interview führte Andreas Würbel, Akademiereferent