Holt Klopp! Was die Kirchen vom englischen Fußballmeister lernen könnten

Manchmal eröffnet die Gleichzeitigkeit grundverschiedener Ereignisse neue Gedanken. So ging es Akademiereferent Matthias Lehnert am vergangenen Samstag. Auf der Meinungsseite der FAZ las er links „Irrelevante Kirche?“ und rechts „Un­sterblich in Liverpool“. Die beiden Meldungen provozierten unseren Kollegen zu einem leidenschaftlichen Appell.

Die Geschichten hinter den beiden Schlagzeilen könnten unterschiedlicher nicht sein: Da sind zum einen die beiden großen Kirchen in Deutschland, die im Jahr 2019 zusam­men über eine halbe Million Mitglieder durch Austritte verloren haben. Selbst ihre schlimmsten Be­fürchtungen, ihre pessimistischsten Prognosen wurden durch die Entwicklung noch unterboten. Und da ist zum anderen der Liver­pool Football Club, der unter Leitung seines Trainers Jürgen Klopp nach einer 30 Jahre währenden Durststrecke erstmals die englische Meisterschaft gewonnen hat, sieben Spieltage vor Saisonende, mit unglaublichen 23 Punkten Vorsprung auf den Zweitplatzierten Manchester City.

Sicher, vor leichtfertigen Gleichsetzungen von Kirchen und Fußballvereinen sollte man sich hüten. Zwar scheinen nicht wenige Menschen „ihrem“ Club mit beinahe religiöser Inbrunst verbunden. Dennoch verfehlt das Reden von der „Ersatzreligion Fußball“ den Punkt. Wenn ich hier also mit Be­griffen und Konzepten aus der Welt des Fußballs argumentiere, wenn ich Parallelen zwischen Ereignis­sen und Gestalten ziehe, dann geht es ganz explizit nicht darum, den Fußball als neue Religion zu präsentieren, die eine Sinnlücke im Leben der Menschen füllen könnte.

Schaut man sich aber die vielen Internet-Videos an, die in den letzten Monaten über Jürgen Klopp und seine Mannschaft veröffentlicht wurden, dann ist das religiöse Vokabular unüberhörbar: Von „Glauben“ und „Wundern“ ist da die Rede. Klopp selbst forderte die Liverpooler auf, sie müssten von Zweiflern zu Gläubigen werden („doubters to believers“). Betont wird zudem die große Geschichte des Vereins, der für seine Anhängerinnen und Anhänger viel mehr sei als ein Club. All dies könnte so auch auf kirchlichen Veranstal­tungen gesagt werden – und wurde es vielleicht sogar. Warum verfängt es also bei den Kirchen im­mer weniger, klingt oft allzu schal und abgestanden, während es bei dem Fußballverein am River Mersey stimmig scheint?

Da sind diese beiden großen „Traditionsvereine“, die katholische und evangelische Kirche, die das Spiel um die Sinndeutung, um Transzendenz, um die großen Fragen im Leben der Menschen über Jahrhunderte dominiert haben. Vielen Generationen waren sie feste Größen, prägten die freudigen und traurigen Momente, strukturierten den Lebensrhythmus mit ihren Festen und Feiertagen. Am Beginn ihrer „Vereinshistorie“ steht eine der größten Geschichten überhaupt, die zahllose Menschen zu atemberaubenden künstlerischen Leistungen, selbstlosen Opfern, ja, zu Heldentaten inspiriert hat und sogar zu Märtyrern werden ließ. An „individueller Klasse“ hat es beiden Vereinen nie gemangelt!

Von der legendären Equipe der ersten Tage, deren Mitglieder heute noch steingeworden die „Clubhäuser“ zieren, über Ausnahmebegabungen wie Giovanni Bernardone aus Assisi, der direkt, herzlich und einfach wie Lu­kas Podolski mit Mensch und Tier sprach, und seinen Landsmann Tommaso d’Aquino, dessen ge­niale Gedankenpässe ganz neue Räume eröffneten, über Martin Luther, der zwar polarisierte, dessen Können „auf dem Platz“ aber über jeden Zweifel erhaben ist, bis zu den großen Namen des 20. Jahr­hunderts: Dietrich Bonhoeffer, Dorothy Day, Martin Luther King, Mutter Teresa, Karl Rahner – um nur einige zu nennen.

Und das sind nur die Spitzen! Die wahre Stärke der beiden Vereine lag stets und liegt noch heute in der Breite ihrer Basis, sie steckt in den vielen Unbekannten, die sich abra­ckern und die fighten, die sich ohne zu murren in den Dienst der Mannschaft stellen, die auch „nach hinten arbeiten“, wenn Not am Mann (und an der Frau!) ist, die selbst im Angesicht der si­cheren Niederlage nicht aufgeben, die immer zurückkommen, die alles geben und noch ein bisschen mehr.

Warum ist es dann aber um die beiden „kirchlichen Traditionsvereine“ so schlecht bestellt, dass von Meisterschaft schon lange keine Rede mehr sein kann, ja, dass selbst der Klassenerhalt nicht mehr gesichert ist? Warum werden sie seit Jahren immer weiter „nach unten durchgereicht“?

Hier ist nicht der Ort für eine umfassende Ursachenforschung. Klar ist: Eine einfache Lösung gibt es nicht. Es ist nicht mit kleinen taktischen Änderungen, neuen Ver­einsfarben oder gar „Trainerwechseln“ getan. Zu tief reichen die Krisenphänomene. Manchmal fragt man sich, ob sie überhaupt noch in ihrer Sportart antreten oder sich doch lieber zu Verbraucherschutzorganisationen umwandeln wollen. Das wäre auch aller Ehren wert, keine Frage. Aber um Transzendenz und Sinndeutung werden sich dann an­dere bemühen. Das Spiel, soviel sollte allen klar sein, ist größer als der größte Club!

Also was dann? Ich weiß es nicht. Aber ich wünsche mir etwas. Ich wünsche mir für die beiden Kir­chen zumindest an ein paar Tagen im Jahr ein 1000-Volt-Spiel, wie es Klopp erst in Dortmund und dann in Liverpool entfesselt hat: hoch emotional, mit Tränen der Freude, der Rührung und wenn es sein muss auch der Trauer, physisch, unter Einsatz der ganzen Person, dynamisch, charismatisch. Ich hätte gerne das ganze Programm mit irren Läufen an der Seitenlinie und aufs Spielfeld, mit Luftsprüngen, geballter Faust, Schlägen an die Brust, mit grotesken Grimassen und dem irren Grin­sen.

Die Kirchen reden von Inkarnation, aber bleiben seltsam körper- und kraftlos. Sie sagen, sie hätten die beste Geschichte, die Frohe Botschaft schlechthin, und verkünden diese oft mit Grabesmiene, ohne Witz, verquast, oder, wie Olli Kahn sagen würde: pomadig. Die Körper­sprache? Sehr defensiv. So sollte man einfach nicht auf den Platz gehen, wenn man von seiner Sache überzeugt ist.

Man mag jetzt sagen, dass ich mit solchen Wünschen doch zu den Freikirchen gehen könne. Da gebe es das alles, Tränen und Zungenrede, erhobene Hände und Gänsehaut. Aber das will ich nicht. Ich möchte, dass die beiden großen Kirchen, die ka­tholische und die evangelische, wieder ganz oben mitspielen, dass sie ihre große Geschichte fortschreiben, die Menschen wieder begeistern.

Natürlich können die Kirchen nicht immer ein solches Vollgas-Programm spielen. Sie müssen auch weiterhin die ganz leisen Töne beherrschen, vielleicht noch mehr Stille wagen. Sie dürfen nicht ein­fach auf den Knalleffekt schielen und ihre Gottesdiens­te zu Events aufputschen. Aber ich wünsche mir, dass die Kirchen, die mit buntem Fensterglas die Lightshow und mit dem gemeinschaftlichen Singen den Fangesang erfunden haben, dass diese bei­den Vereine mehr und öfter als heute richtig Dampf machen, mitreißen, um mit ihrer Botschaft durchdringen, die ohne nennenswerten Abstriche auf die ganz einfache Formel gebracht werden kann: You‘ll never walk alone!

Wie kann das gehen? Kann denn eine Kirche, die durch den Skandal des Missbrauchs an Tausenden Minderjähri­gen belastet ist, so auftreten? Oder kann eine Kirche, deren Spiritualität manchem bisweilen auf die Mah­nung zur Verwendung von Energiesparlampen reduziert scheint, plötzlich 1000-Volt-Powerplay ver­anstalten? Eher nicht.

Aber Klopp hat mit dem L.F.C. die Titel ja auch nicht einfach nur durch Zäh­neblecken und Fäusteballen gewonnen. Er hat den gesamten Verein umgekrempelt und selbst bei Abläufen tief im Maschinenraum – wie etwa der Ernährung der Spieler – mit einer unglaubli­chen Aufmerksamkeit für selbst kleinste Details Veränderungen eingeleitet. Nicht zuletzt ist Klopp, wie die FAZ schreibt, ein begnadeter „Menschenfänger“ – auch das eine Vokabel, die dem Neuen Testament entlehnt ist. Natürlich hat Klopp in dieser Disziplin eine singuläre Begabung, die man nicht einfach von jedem Menschen erwarten kann. Klopp sagt aber auch von sich: „In mir ist der starke Wunsch, Beziehungen herzustellen.“ Haben wir in den Reihen der Kirchen noch genug Engagierte, die von diesem Wunsch angetrieben werden? Setzen wir genug daran, Beziehungen aufzubauen?

Natürlich reden alle von Gemeinschaft und la­den dazu ein, Teil der Gemeinschaft zu werden. Aber das setzt Beziehung und Kommunikati­on vor­aus. Zu Menschen, mit denen ich eine Gemeinschaft bilden möchte, muss ich eine Be­ziehung haben. Die entsteht aber nicht von selbst, sondern nur, indem man erreich- und ansprechbar ist, Präsenz zeigt und auch aktiv Menschen anspricht, auf sie zu­geht. Damit könnten wir, wie es der Politikberater und Autor Erik Flügge wiederholt vorgeschlagen hat, bei den eigenen Mitgliedern anfangen.

Nur auf der doppelten Grundlage von kompromissloser Arbeit am Detail und der andauernden Be­mühung um Beziehung funktioniert der emotionale Heavy-Metal-Fußball der Marke Klopp. Für die Kirchen würde das möglicherweise eine komplette Umstrukturierung bedeuten. Nicht zuletzt müsste das gesamte ästhetische Programm auf den Prüfstand, die Anmutung der Räume, die Lieder, die Bilder, die Sprache. Wenn die Kirchen die Herzen der Menschen (wieder mehr) erreichen wol­len, müssen sie den ganzen Menschen ansprechen, Körper, Seele und Geist. Dazu müssen sie auch Spektakel können und auf die Pauke hauen. Und sie müss­ten Leute ausbilden, gewinnen, trainieren, die das überarbeitete Spielsystem authentisch mit Leben füllen.

Die Kirchen brauchen keinen weiteren Messias. Einer reicht. Aber sie brauchen offenbar Menschen die neue Energie einbringen, die „Dampf machen“. Vielleicht sollten sie zusammenlegen und den bekennenden Christen und Reformationsbotschafter Klopp für ein ausgedehntes Strategieseminar einladen. Das könnte zumindest ein Anfang sein. Die Botschaft der beiden disparaten Zeitungsmeldungen an die Kirchen lautet: „Holt Klopp!“

Bilder
You‘ll never walk alone. Bild von Matthew Roth auf Flickr (CC BY-NC 2.0). Bildausschnitt 16:9.
Der Menschenfänger in Aktion. Bild von Pete auf Flickr, gemeinfrei.

30. Juni 2020 ||  ein Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent Forum: PGR