Fast ist es als übersetze sie das Leben in Literatur – Eine Erinnerung an die Schriftstellerin Irmgard Keun

„Fast ist es als übersetze sie das Leben in Literatur“ schreibt Erika Mann Anfang der 1930iger Jahre über Irmgard Keun. Mit ihren beiden Romanen „Gilgi, eine von uns“ (1931) und „Das kunstseidene Mädchen“ (1932) schafft Irmgard Keun eine Sensation. In ihren beiden Werken greift sie das Lebensgefühl junger Frauen auf, die aus ihrem gleichförmigen Alltag ausbrechen und deren Sehnsucht nach Glück, Glanz und Selbstständigkeit doch unerfüllt bleibt. Irmgard Keun, 1905 in Berlin-Charlottenburg geboren und in Köln aufgewachsen, wird mit 26 Jahren zur Bestsellerautorin. Beide Bücher erhalten exzellente Rezensionen und werden in mehrere Sprachen übersetzt. Kurt Tucholsky bemerkt 1932 in einem Beitrag für die Weltbühne: „Eine schreibende Frau mit Humor! Hier ist ein Talent.“

Aber wird die Schriftstellerin ihr Talent weiter entfalten können? Im Ausland ist sie erfolgreich und geachtet, ihre Karriere bricht jedoch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland ab. Die beiden Romane werden als „Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“ verboten und auch in Köln 1933 öffentlich verbrannt.

Im Oktober 1935 reicht Irmgard Keun beim Landgericht Berlin eine Klage ein. Nach ihrer mutigen Forderung auf Schadenersatz wegen Verdienstausfall wird sie mehrfach verhört, 1936 kann sie aber nach Ostende fliehen. Dort begegnet sie dem Schriftsteller Joseph Roth, der schon 1933 nach der Machtergreifung von Adolf Hitler nach Paris emigriert ist und sich im Sommer 1936 im belgischen Badeort aufhält. Keun und Roth beginnen eine Liebesbeziehung, die auch die gemeinsame schriftstellerische Arbeit stark beeinflusst. Irmgard Keun merkt dazu an: „Roth und ich machen die reinste Schreibolympiade. Meistens hat er abends mehr Seiten als ich. Roth hetzt mich maßlos, aber er hat recht.“

Beide bleiben zwei Jahre zusammen und reisen miteinander. In dieser Zeit entstehen drei weitere Romane von Irmgard Keun, so zum Beispiel „Nach Mitternacht“: Darin beschreibt die Ich-Erzählerin Sanna ausführlich den Alltag einer jungen Frau zur Zeit des Nationalsozialismus in Frankfurt. Irmgard Keun zeichnet durch ihre Protagonistin bedrückende Situationen zwischen Regimeanhängern und Angepassten. Der Roman erscheint 1937 im Querido-Verlag in Amsterdam. Seit 1933 ermöglicht dieser Verlag vielen verfolgten und verbotenen Autorinnen und Autoren wie Klaus Mann, Erika Mann, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin oder Anna Seghers die Möglichkeit, ihre Werke zu veröffentlichen.

Nach der Trennung von Joseph Roth, der 1939 in Paris stirbt, hält sich Irmgard Keun mit einem Touristenvisum für einige Zeit in den USA bei Arnold Strauss auf. Er arbeitet in Norfolk/Virginia als Pathologe, unterstützt sie seit mehreren Jahren finanziell und sieht sich als ihr Verlobter. Der Roman „Kind aller Länder“ („Child of all countries“, „L’enfant cosmopolite“), den sie während ihres Aufenthaltes fertigstellt, erscheint 1938 wiederum in Amsterdam. Sie erzählt darin die Geschichte der zehnjährigen Kully, die mit ihren Eltern in verschiedenen Hotels lebt. Der Vater des Mädchens, ein Schriftsteller in ständigen Geldnöten und immer unterwegs, versucht durch Vorschüsse bei seinen Auslandsverlagen halbwegs die Situation seiner Familie zu sichern. Aus der Perspektive des Kindes gibt der Roman tiefe Einblicke in die Lebensumstände der Emigranten in Europa zu dieser Zeit.

Irmgard Keun, die sich 1940 wieder in den Niederlanden aufhält, gelingt es, mit falschem Pass und einer zuvor gesendeten Meldung des britischen Daily Telegraph über ihren vermeintlichen Tod, illegal nach Deutschland einzureisen. Sie taucht unter, ihre Eltern verstecken sie zunächst in einem Gasthof in Moselkern. Das Ende des Krieges erlebt sie mit Mutter und Vater in einem Hotel in Bad Hönningen. Die Rückkehr nach Köln gestaltet sich schwierig. Mit ihren Eltern bezieht sie das notdürftig eingerichtete Haus in der Eupener Straße 19 und beginnt mit ersten Beiträgen für den Norddeutschen Rundfunk. In einem Brief an den Schriftsteller Hermann Kesten, den sie aus der Zeit des Exils kennt, schreibt Irmgard Keun: „An Köln ist das beste, dass es kaputt ist.“ Und gegenüber Alfred Döblin bemerkt sie: „Die Menschen sind mir fast alle so fremd, wie sie’s mir die ganzen Jahre hindurch kaum waren. Ich brauche sie, da man doch ein Mindestmaß an menschlicher Wärme braucht, um nicht ganz zu erfrieren…“

Die nächsten drei Jahrzehnte werden für Irmgard Keun schwierig. Literarische Vorhaben von ihr werden kaum beachtet. Durch die Vermittlung ihres Ex-Ehemannes Johannes Tralow (er ist seit 1951 Präsident des P.E.N.-Zentrums) gelingt ihr zwar in den 1950iger Jahren im Verlag der Nation in Ost-Berlin eine Veröffentlichung ihrer Romane aus der Zeit des Exils. Sie passen aber offensichtlich nicht in das Bild einer sozialistischen Gesellschaft.

Im Jahr 1951 kommt ihre Tochter Martina zur Welt. Mit ihr wird Irmgard Keun im Spätsommer 1956 im Schriftstellererholungsheim „Friedrich Wolf“ am Schwielowsee bei Petzow vier Wochen verbringen. Doch auch hier werden die Alkoholprobleme der Schriftstellerin offenbar, die sich in den kommenden Jahren noch verschärfen werden. So kommt es im August 1966 zur Einweisung in das Landeskrankenhaus in Bonn, das Irmgard Keun erst nach über 6 Jahre wieder verlassen wird.

Der Journalist Jürgen Serke lenkt 1977 mit seinem Buch „Die verbrannten Dichter: Berichte, Texte, Bilder einer Zeit“ das Interesse auf die Exilliteratur und damit auch auf Irmgard Keun. Ihre in Vergessenheit geratenen Bücher werden im Claassen Verlag neu aufgelegt. Sie wird zu Lesungen und Interviews eingeladen und steht, wenn auch für kurze Zeit, in der literarischen Öffentlichkeit. Besonders, so sagt es ihre Tochter Martina Keun-Geburtig in einem Interview, erlebt sie die Verfilmung des Romans „Nach Mitternacht“ 1981 als große Anerkennung.

In einer Laudatio zum 75. Geburtstag von Irmgard Keun bezeichnet Elfriede Jelinek sie als „unerbittliche satirische Analytikerin“. Mit dem zugesprochenen Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt (Sie ist 1981 die 1. Preisträgerin) erhält Irmgard Keun, wenige Monate vor ihrem Tod, noch eine angemessene Würdigung. Sie stirbt am 5. Mai 1982 in Köln und wird auf dem Friedhof Melaten beerdigt.

Inzwischen finden sich in verschiedenen Städten Hinweise der Erinnerungen an diese bemerkenswerte Autorin: so in Berlin (Meinekestraße 6), in Köln am Rathausturm (Skulptur neben Heinrich Böll und dem Widerstandskämpfer Bernhard Letterhaus) sowie an der Fachhochschule Köln (Claudiusstraße) und in Bonn-Castell (Breite Straße 115).

Bis heute ist der Roman „Das kunstseidene Mädchen“ besonders mit ihrem Namen verknüpft und hat nichts, wie Bühnenfassungen zeigen, an Aktualität verloren. Die Darstellung der Protagonistin Doris gilt für viele junge Schauspielerinnen als Glanzpartie. Vielleicht ist gerade „Doris“ auch eine Figur unserer Zeit. Junge Menschen auf der Suche nach Anerkennung, Geborgenheit und Glanz, die sich mit den Widrigkeiten des Lebens auseinandersetzen.

Der Berliner Literaturwissenschaftler Michael Bienert sieht in Irmgard Keun eine „große Skeptikerin“ und „Gegenwartsautorin“. Mit ihren Romanen, Rundfunkdialogen, Glossen verdient sie weiterhin unsere Aufmerksamkeit.

Empfohlene Literatur:

Michael Bienert: Das kunstseidene Berlin. Irmgard Keuns literarische Schauplätze. Berlin 2020
Michael Bienert (Hrsg.): Irmgard Keun. Man lebt von einem Tag zum anderen Briefe 1933-1948. Berlin 2021
Volker Weidermann: Ostende 1936. Sommer der Freundschaft. Köln 2014

Bildnachweis:

Rathausturm Köln – Irmgard Keun, Bildhauerin Marieluise Schmitz-Helbig © Raimond Spekking
Gedenktafel Meinekestr 6 für Irmgard Keun © OTFW, Berlin, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

11. Mai 2021 || ein Beitrag von Edith Dietzler-Isenberg, Konrektorin i. R. an einer Grundschule

Für die Akademie ist Edith Dietzler-Isenberg als engagierte Reiseleiterin unterwegs.
Reisen Sie mit ihr vom 22. bis 27. August 2021 (So.-Fr.) nach Dessau oder vom 19. bis 25. September 2021 (So.-Sa.) zu den Künstlerkolonien Hiddensee, Ahrenshoop und Schwaan.
Folgen Sie mit ihr den Spuren August Mackes am 20. August 2021 (Fr.) in Bonn.