Europas Gegenwart im Spannungsfeld von Geschichte und Zukunft
Das „Europäische Projekt“, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg konkretisierte und über seine Anfänge über mehrere Etappen bis zur heutigen Europäischen Union fortentwickelte, war stets ein stark zukunftsbetontes. Dabei standen das Versprechen von ökonomischem wie auch gesellschaftlichem Fortschritt, ebenso wie die Verheißung von langfristigem Wohlstand und insbesondere Frieden im Fokus. Zugleich aber markierte allein schon sein Ausgangspunkt in der traumatischen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges die Rolle und Wirkungsmächtigkeit der unmittelbaren historischen Erfahrung für eben dieses „Projekt“.
Ungeachtet dessen blieb der Umgang mit Geschichte auf europäischer politischer Ebene über viele Jahrzehnte erstaunlich verhalten und vorsichtig. Dies war zweifellos der schwierigen und konfliktbeladenen jüngeren Vergangenheit des Kontinents geschuldet, die eher vergessen denn in Erinnerung gerufen werden wollte. Zugleich war die Überzeugung verbreitet, dass man ein genuin neues transnationales Gemeinwesen stiften könne, das ohne den massiven „historisierenden Unterbau“ samt Geschichtsmythen auskommen würde, wie er für den Nationalstaat charakteristisch war und bis heute ist. Dementsprechend blieb es im Rahmen der Europäischen Integration bis in die 1990er-Jahre bei sehr generellen historischen Referenzpunkten im politischen Diskurs, die sich vor allem auf den generischen Begriff des „europäischen (Kultur-)Erbes“ einerseits, abstrakt-allgemein auf den Zweiten Weltkrieg als „Stunde null“ und Ausgangspunkt des europäischen Einigungsprozesses andererseits bezogen.
Bezeichnenderweise wurden erst mit der sich anbahnenden „Osterweiterung“ der EU ab den späten 1990er-Jahren und dann vor allem mit dem Scheitern des ehrgeizigen Projektes einer Verfassung für Europa 2004/2005 die Anstrengungen intensiviert, in Nachahmung der etablierten Praxis auf nationaler Ebene eine verbindliche „Europäische Erinnerungskultur“ zu forcieren – vor allem, um zusätzliche Legitimität für das Europäische Projekt zu generieren. Zentrale Referenzpunkte dieser europäischen Erinnerungskultur wurden die totalitären Erfahrungen des Kontinents.
Dabei war es kein Zufall, dass Nationalsozialismus und Stalinismus als Anker für ein kollektives europäisches Gedächtnis identifiziert wurden, bedenkt man, dass die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts den radikalsten Kontrast zu den im Europäischen Einigungswerk verkörperten Idealen darstellen: Frieden, Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten, das Recht auf individuelle Selbstbestimmung und Pluralismus. In der Verkörperung des Gegenteils dieser Ideale war Totalitarismus am besten dazu angetan, für alle Nationen Europas Relevanz beanspruchen zu können und als Basis einer gemeinsamen „historischen Selbstvergewisserung“ zu dienen.
Wie erfolgreich die Bemühungen um Identitäts- und Legitimitätsstiftung durch Geschichte im Allgemeinen und mit Bezug auf Totalitarismus im Besonderen in Folge waren, muss indes offen bleiben, zumal der gewählte Zugang europäischer Geschichtspolitik an mehreren Schwachpunkten laboriert.
Zum einen besteht bis heute ein markantes Nebeneinander von zumindest zwei konkurrierenden „Erinnerungsrahmen“: Während für Westeuropa nach wie vor die Vorstellung von der „Einzigartigkeit des Holocaust“ und der durch ihn repräsentierten zivilisatorischen Zäsur von großer Prägekraft ist, sind in Osteuropa die kommunistische Diktaturvergangenheit der zentrale Angel- und Bezugspunkt nationaler Erinnerungskulturen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Zum anderen wird durch die Bestimmung von Totalitarismus als Hauptbezugspunkt für ein kollektives europäisches Gedächtnis ein „negativer Gründungsmythos“ und eine einseitige Schwarz-Weiß-Sicht der Geschichte forciert, die Europas dunkle Vergangenheit als logische Alternative zu seiner glänzenden Gegenwart erscheinen lässt. Damit wird ein unkritisches und eindimensionales Geschichtsverständnis befördert, dies umso mehr, als der Fokus auf Nationalsozialismus und Stalinismus europäische Geschichte im Wesentlichen zu einem Phänomen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg reduziert und den Blick auf die Zeit vor dem 20. Jahrhundert verstellt. Nicht zuletzt birgt die Reduktion von historischem Gedächtnis auf Nationalsozialismus und Stalinismus auch die Gefahr, Anreize zur kritischen Hinterfragung von Stereotypen und „heiligen Kühen“ nationaler Geschichten in Europa tendenziell zu reduzieren und Debatten um gemeinsame historische Verantwortung in den Hintergrund zu drängen.
Vor diesem Hintergrund sollte sich der Schwerpunkt zukünftiger europäischer Geschichtspolitik von der Schaffung eines kollektiven europäischen Gedächtnisses hin zur Stärkung eines informierten und zugleich (selbst-)kritischen Geschichtsbewusstseins verlagern, mithin einer zivilgesellschaftlichen „Kultur des Erinnerns (von unten)“ der Vorzug gegenüber einer fest definierten „Erinnerungskultur (von oben)“ gegeben werden. Im Kern ginge es dabei darum, Bürgerinnen und Bürger zu einem kritischen Umgang mit Geschichte zu befähigen, dies als Voraussetzung für die gemeinsame Aufarbeitung der vielen verschiedenen „Vergangenheiten“ des Kontinents auf Basis geteilter europäischer Werte, Grundsätze und universalisierter Praktiken.
Erfreulich ist, dass mit der jüngsten, im Januar 2024 angenommenen Entschließung des Europäischen Parlaments unter dem Titel „Europäisches Geschichtsbewusstsein“ (2023/2112(INI)) ein bedeutender Schritt in eben diese Richtung gesetzt wurde: Nicht länger steht die Frage im Mittelpunkt, „woran“ man erinnern soll, vielmehr jene nach dem „wie“ des verantwortlichen Umgangs mit Geschichte. Geschichtsbewusstsein wird in der Entschließung als die zentrale Fähigkeit zur reflexiven und (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit unserer konfliktträchtigen und allzu oft polarisierenden Vergangenheit erkannt; eine individuelle wie kollektive Fähigkeit, die es vor allem – wenn auch nicht ausschließlich – mit Mitteln der Bildungspolitik zu fördern gilt.
Es bleibt zu hoffen, dass zumindest mittelfristig Europa die Dämonen seiner Vergangenheit hinter sich lassen, zugleich aber Kraft und Selbstvertrauen aus dem Umgang mit seiner komplexen Geschichte schöpfen kann: Nur wenn es gelingt, über gemeinsame Arbeit an Geschichte zu einem geteilten Verständnis des Umgangs mit unserer Historie zu gelangen, ist vertrauensvolles Miteinander in der Gegenwart möglich, und eine solidarische Zukunft als Gemeinschaft überhaupt erst vorstellbar.
8. Juni 2024 || ein Beitrag von PD Dr. Markus J. Prutsch, Universität Heidelberg/Europäisches Parlament
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