E pluribus unum!

Gedanken zur Präsidentschaftswahl in den USA

Es war eine unruhige Nacht. Mehrfach bin ich aufgewacht, um nachzuschauen, wie es im Rennen um das Weiße Haus steht. Und während ich dies schreibe, laufen im Hintergrund die Liveticker von CNN und Spiegel Online.

Die USA sind seit vielen Jahren politisch tief in zwei etwa gleich große Lager gespalten. Das Bild der beiden weitgehend ideologiefreien Parteimannschaften, die sich – nur durch ihre Maskottchen und Parteifarben unterschieden – als Manager der Regierungsmaschinerie ablösen, ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr stimmig. Zusehends haben sich nicht nur die politischen Positionen der Republikaner und Demokraten voneinander entfernt, sondern auch die Lebenswelten ihrer Anhänger. Heute geht der Riss quer durch Familien und sorgt für dauerhaften Streit, der weit über das hinausgeht, was wir in Deutschland gewöhnt sind. Bilder von hochgerüsteten paramilitärischen Verbänden – etwa der „Proud Boys“ auf der extremen Rechten und militanter Antifa-Gruppen auf der extremen Linken – kennt man hierzulande allenfalls aus Geschichtsbüchern über das Ende der Weimarer Republik.

Ein Wetterleuchten der heutigen Misere habe ich selbst erlebt, als ich Anfang des Jahrtausends an der Johns Hopkins University in Baltimore studierte – einer Universität, die damals in Deutschland bei weitem nicht so bekannt war wie heute zu Corona-Zeiten. Die dortige Studierendenschaft war in fast jeder Hinsicht äußerst bunt gemischt. Nur eines war auffällig: Es gab praktisch keine Republikaner. Bei einer Diskussionsveranstaltung wies ich einmal einen Kommilitonen darauf hin, dass auch die „College Republicans“ vertreten seien. Darauf erwiderte er: „Ja, alle drei sind da“. Republikaner waren bedauernswerte Exoten, die ihr eigentliches Biotop nicht in der akademischen Community der großen Universitäten hatten, sondern in Kleinstädten des agrarisch geprägten und frommen Mittleren Westen – einer Region, die bei vielen links-liberalen Akademikern der Küstenstädte als „flyover country“ gilt.

Auch sonst sehr freundliche und kultivierte Kommilitonen ließen sich zu Bemerkungen wie „I hate the Republicans“ hinreißen. Das war keineswegs nur so dahergesagt. Die Angehörigen des anderen politischen Lagers begegnete man mit großer Abneigung, ja mit Abscheu. Niemand hätte es gewagt, sich als „conservative“ zu bezeichnen. Mit einer Ausnahme: Es gab genau eine republikanische Doktorandin, die zuvor in der US Army gedient hatte und später bei einem Bombenangriff in Bagdad ums Leben kommen sollte. Sie wurde höflich toleriert, stand aber klar abseits. Eine Kommilitonin blickte im Gespräch mit der Washington Post auf die gemeinsame Zeit zurück: „Als ich sie zum ersten Mal traf, war ich mir sicher, dass ich sie nicht mögen würde. Sie war eine Frau aus der Armee, und sie war Republikanerin, sehr freimütig. Ich bin eingefleischte Demokratin. Sie war eine konservative Person in einer liberalen Fakultät. Sie brachte eine dringend benötigte Perspektive ein. . . Die Tatsache, dass sie eine der ganzen wenigen Republikanerinnen unter meinen Freundinnen war, sagt viel aus.“ In der Tat!

Es gab allerdings einen Mann, der sichtbar unter dieser Spaltung litt: Der von allen hochgeschätzte Professor Joseph Cooper, ein Hochschullehrer alter Schule. Im klassischen „swing state“ Ohio aufgewachsen, hatte er in den 1950er Jahre in Harvard studiert. Danach arbeitete Cooper für die Kennedy-Regierung, schlug dann aber eine wissenschaftliche Karriere ein. Seine Neigung zu den Demokraten hatte über die Jahre offenkundig nachgelassen. Kommilitonen spekulierten sogar, dass Cooper ein „blue dog Democrat“ sein könne, also einer jener moderaten Anhänger der Demokraten, die bei den Wahlen im Jahr 1980 Ronald Reagan unterstützt hatten. Als Professor an der Rice University in Austin, Texas hatte er jedenfalls einen Kurs gemeinsam mit George H. W. Bush (dem „alten Bush“) unterrichtet, bevor dieser Reagans „running mate“ und dann Vizepräsident wurde.

Nun klagte Cooper häufig über die zunehmende Polarisierung der Parteien. Sie sei in einem präsidentiellen System wie dem der USA besonders schädlich. Dieses lebe doch davon, dass sich immer Abgeordnete und Senatoren fänden, die den Angehörigen des anderen Lagers die Hand reichen („who reach accross the aisle“), um gemeinsam Gesetzesvorhaben auf den Weg zu bringen. So funktioniere Politik: In den Ausschüssen müsse man Kompromisse suchen, wankelmütige Kollegen überzeugen und dabei Zugeständnisse anbieten, für die man vielleicht erst sehr viel später eine Gegenleistung erhalte. Cooper konnte sich für die alten Meister dieser politischen Kunst begeistern, für Sam Rayburn etwa, den legendären Sprecher des Repräsentantenhauses, aber auch für den republikanischen Senator Everett Dirksen, dessen Porträt in Coopers Büro hing. Die ideologisch aufgeladene Strategie des republikanischen Hardliners Newt Gingrich und das Verschwinden der moderaten Ostküstenrepublikaner sah Cooper mit ebenso großer Sorge wie die ausnahmslos nach links tendierenden Haltungen der Studierenden und die zunehmende ideologische Geschlossenheit der demokratischen Partei. Eindringlich riet er mir, die Mitte des Landes zu bereisen. Ich könne Amerika nur verstehen, wenn ich mich aus den Blasen herausbewege, die sich in den liberalen Küstenstädten gebildet hätten. Die Bezeichnung der US-Bundesstaaten zwischen Ost- und Westküste als  „flyover country“ lehnte er leidenschaftlich als Ausdruck akademischer Überheblichkeit ab. Wer so rede, trage zur Spaltung des Landes bei und untergrabe die amerikanische Demokratie!

Gegen Ende meines Studienjahres vermittelte Cooper mir einen Kontakt zum Senatsbüro von Edward Kennedy. Gerne hätte ich beim jüngsten Spross der Kennedy-Dynastie ein Praktikum auf dem Capitol Hill gemacht, aber es gab keine freien Plätze mehr. Als Kennedy einige Jahre später starb, erinnerte sich der damalige Präsident Barack Obama in einer bewegenden Totenrede an seinen Parteifreund und Senatskollegen. Die Kritik an der zunehmend aufgepeitschten politischen Stimmung im Land war dabei unüberhörbar, als Obama über Kennedy sagte: „Er war geprägt von einer Zeit, in der die Freude an der Politik und die Ehrenhaftigkeit verhinderten, dass parteipolitische und weltanschauliche Differenzen zu Hürden für Zusammenarbeit und gegenseitigem Respekt wurden, einer Zeit, in der sich die politischen Gegner noch als Patrioten betrachteten.“

Diese Zeiten sind lange vorbei. Die beiden Parteien haben sich weiter voneinander entfernt, und – wichtiger noch – die lebensweltliche Kluft zwischen ihren Anhängern ist immer größer geworden. Aus der europäischen Perspektive sind dabei die Rollen klar verteilt. Es gibt hierzulande keine ernstzunehmenden Kräfte, die Donald Trump eine zweite Amtszeit wünschen. Dass etwa die CSU seine Wiederwahl wie noch den Wahlsieg George W. Bushs im Jahr 2000 begeistert als Signal „gegen den Linkstrend in den westlichen Demokratien“ feiern würde, kann als ausgeschlossen gelten. Aber aufmerksame Beobachter der US-Politik, wie etwa Michael Hochgeschwender, Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, weisen auch auf die Mitverantwortung der Demokraten an der fatalen Entwicklung hin. Sie hätten es, so Hochgeschwender kürzlich im Deutschlandfunk, „auch aus einfach intellektueller Arroganz“ nicht für nötig gehalten, ernsthaft auf die religiösen Wähler des mittleren Westens zuzugehen. Das müsse sich unbedingt ändern: „Die Demokraten müssen etwas mehr die Hände ausstrecken in Richtung gläubiger Wähler, die jetzt nicht ganz dem konservativen Lager zugehören.“

Nur mit einer parteiübergreifenden Bemühung um gegenseitige Verständigung, um Ausgleich und Kompromiss können die Vereinigten Staaten von Amerika ihrem Wappenspruch wieder gerecht werden: E pluribus unum – Aus vielen eines!

Bilder
Aufgang oder Untergang? Bild von Aaron Burden auf Unsplash, gemeinfrei
Gilman Hall. Johns Hopkins University. Bild von David Mark auf Pixabay, gemeinfrei
Präsident Ronald Reagan und Senator Edward Kennedy im Oval Office, 1986. Bild: Reagan White House Photographs auf Wikipedia, gemeinfrei

4. November 2020 || von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent