Lob des Verlegers
Bevor der Tag zu Ende geht, soll unbedingt noch an den Verleger Siegfried Unseld erinnert werden, der heute vor zwanzig Jahren starb. Nicht einmal sein Gründer und Namensgeber Peter Suhrkamp hat das wohl wichtigste Verlagshaus der Bundesrepublik so geprägt wie Unseld.
Und damit nicht genug: Über den Verlag und sein Programm hat Unseld die geistige Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg so sehr beeinflusst, dass in den 1970er Jahren der Begriff der „Suhrkamp-Kultur“ aufkam. So schrieb der Literaturwissenschaftler George Steiner 1973: „Ganz auf sich gestellt, kraft seiner kulturpolitischen Vision und seines verlegerischen Scharfsinns hat der Suhrkamp Verlag einen Maßstab für moderne Philosophie geschaffen. Insofern als der Suhrkamp Verlag die bedeutendsten herausforderndsten philosophischen Stimmen unserer Epoche einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat, insofern als er die deutschen Bücherregale mit der Gegenwart jener deutsch-jüdischen intellektuellen uns stimulierenden Kraft erfüllt hat, welche der Nazismus auslöschen wollte, war und ist seine Initiative ein dauerndes Verdienst.“
Man kann in dieser Eloge wohl guten Gewissens anstatt „Suhrkamp Verlag“ auch „Unseld“ sagen. Rastlos trieb Unseld, der als junger Mann nach Notabitur, Kriegsteilnahme, Buchhändlerlehre und Germanistikstudium von Suhrkamp höchstselbst in den Verlag geholt worden war, die Geschicke des Hauses voran und führte Suhrkamp an die Spitze des deutschen Verlagswesens.
Die Backlist des Verlags liest sich wie ein Who is Who der modernen Literatur: Neben Hermann Hesse, über dessen Werk Unseld noch zu Lebzeiten des Nobelpreisträgers promoviert hatte, waren Bertolt Brecht, Max Frisch, Uwe Johnson, Peter Handke, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger Suhrkamp-Autoren. Auch die deutschen Ausgaben internationaler Schriftsteller von Samuel Beckett bis Mario Vargas Llosa erschienen bei Suhrkamp.
Legendär und auch visuell prägend für viele Wohn- und Studierzimmer wurde die vom genialen Grafikdesigner Willy Fleckhaus gestaltete Taschenbuchreihe „Edition Suhrkamp“, deren erste 48 Bände in den Farben des Regenbogens in die Sammlung des Museum of Modern Art in New York aufgenommen wurden.
Siegfried Unseld ist das Kraftzentrum dieses Kosmos: Schon eine kleine Internetrecherche fördert zahllose Bilder zutage, die ihn umringt von Geistesgrößen zeigen: Mal sitzt er zwischen Böll und Adorno, mal diskutiert er mit Reich-Ranicki, lauscht einem Vortrag des jungen Rainald Goetz oder diskutiert mit Enzensberger und Handke. Immer wieder auch taucht er inmitten eines ganzen Rudels seiner Autoren auf, irgendwo zwischen den pfeifeschmauchenden Uwe Johnson und Max Frisch.
Die Bilder geben Zeugnis von Unselds Anspruch, nicht Bücher zu verlegen, sondern Autoren. Der Verlag sollte „seinen“ Autoren und Autorinnen (einige, wenige Frauen gab es) eine Heimat bieten. Dass dies keineswegs so kuschelig war wie es klingen mag, belegt eine vor zwei Jahren erschienene Sammlung von Reiseberichten, die Unseld stets nach Rückkehr von seinen zahllosen Besuchen im In- und Ausland verfasste und von denen sich einige, so der SPIEGEL, wie ein Martyrium läsen.
Unseld hat nicht nur wie ein Besessener gearbeitet, er hat es verstanden, die sensiblen Künstlerseelen zu streicheln, die Antriebslosen zum Schreiben zu motivieren und die Niedergedrückten wieder aufzurichten. Viel hat der Verleger dafür einstecken müssen, wovon neben den Reiseberichten auch die mittlerweile veröffentlichten Briefwechsel mit Handke, Frisch und Co. zeugen.
Legendär schwierig war der Österreicher Thomas Bernhard, der seinen Verleger wiederholt zu Vorschüssen von vielen Tausend Mark nötigte. Bernhard brachte es fertig, nach endlosen Vertragsverhandlungen im Verlauf aufzutauchen und einzelne missliebige Passagen wieder aus dem Kontrakt zu streichen. Unseld war zwar empört, schluckte den Ärger doch ein ums andere Mal in der Hoffnung herunter, dass man Bernhard das Gefühl geben müsse, „daß er hier im Verlag eine Heimat hat, dann wird dieser ungewöhnliche Autor weiterhin produktiv bleiben.“
Besonders geduldig war Unseld auch mit dem „hoffnungslosen Fall“ Wolfgang Koeppen. Der hatte in den 1950er Jahren eine vielbeachtete Trilogie vorgelegt, die ihn zu den wichtigsten Autoren der jungen Bundesrepublik machte. Danach kam: nichts. Jahrelang hielt Koeppen seinen Verleger hin, vertröstete ihn immer wieder mit der Zusicherung, an einem großen Roman zu arbeiten. Bis an das Ende seines langen Lebens wurde Koeppen von Unseld im doppelten Wortsinne ausgehalten.
Unangefochten führt die Hitliste der Divenhaftigkeit aber Max Frisch an, der den vor Energie strotzenden „Ermöglicher“ Unseld so nah an den Rand der Resignation führte wie es weder zuvor noch danach einem Autor gelungen ist: Zum 60. Geburtstag des Schweizers reist Unseld im Mai 1971 nach New York, wo Frisch lebt. Unseld lädt Frisch in ein nobles Restaurant in Manhattan ein, richtet auf Verlagskosten einen Empfang aus, arrangiert Treffen mit amerikanischen Verlagen. Aber Frisch wird immer ungehaltener und grantiger.
Der aufgestaute Groll entlädt sich schließlich in einer regelrechten Suada. Frisch beschimpft seinen Verleger, mit dem er bis dato freundschaftlich verbunden ist, weil dieser es gewagt habe, „mit leeren Händen“ zu erscheinen. Er, Frisch, werde dafür sorgen, dass auch andere Autoren wie Habermas und Johnson von Unselds schäbigen Verhalten erführen.
Der so Heruntergeputzte gibt deprimiert zu Protokoll, auch er habe ein Recht, nicht wie ein Hund behandelt zu werden. Und er erinnert sich an die Frage eines Journalisten, ob es nicht belastend sei, immer nur Umgang mit bedeutenden Menschen zu haben. Darauf hatte Unseld mit einem Goethe-Zitat geantwortet: „Gegen die Vorzüge anderer gibt es kein anderes Rettungsmittel als Liebe.“
Doch nach Frischs Watschen zweifelt Unseld an der Verschreibung des großen Meisters und sieht nur noch ein Gegenmittel gegen die Resignation: Arbeit. Unseld macht unermüdlich weiter, schafft es schließlich auch, das Verhältnis zu Frisch zu kitten, und stirbt nach über 50 Jahren im Dienste des Suhrkamp Verlags und der Literatur am 26. Oktober 2002 nach einem Herzinfarkt.
Man muss das Verlagsprogramm von Suhrkamp nicht mögen, um die Leistung Siegfried Unselds anzuerkennen. Sie zeigt exemplarisch, was einen Verleger ausmacht. Im Kern hat er mit Künstlern zu tun. Und von denen sind nur wenige dazu in der Lage, den Rat Gustave Flauberts zu befolgen: „Sei ruhig und ordentlich in deinem Leben, damit du wild und originell in deiner Arbeit sein kannst.“
Daher braucht es Agenten, Manager, Impresarios, Verleger. Leute wie Brian Epstein, den Manager der Beatles, oder Sam Philips, der Elvis Presley und Johnny Cash entdeckt hat, oder wie Siegfried Unseld, der sich von Max Frisch heruntermachen ließ, damit nach Stiller und Gantenbein auch noch Montauk und den Mensch im Holozän zu lesen bekomme. Wir sollten es ihm und seinesgleichen danken und gelegentlich das Lob des Verlegers anstimmen.
Bildnachweis
Kiel, 1974: Siegfried Unseld (rechts) auf einem Podium mit Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, PEN-Präsident Hermann Kesten, PEN-Generalsekretär Thilo Koch, Journalistin und Buchautorin Leona Siebenschön. Bild: Friedrich Magnussen / Stadtarchiv Kiel via Wikimedia commons (CC-BY-SA 3.0)
26. Oktober 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert