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Theresienstadt: Nazi-Zitadelle – Judenghetto – Hochburg der Shoah-Musik

Theresienstadt ist eine ehemalige Festung des K.u.K.-Kaiserreichs, ca. 60 km. nördlich von Prag. Zwei Jahre nach der Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen–Mähren requiriert Reinhard Heydrich 1941 die Zitadelle als künftiges Lager für die tschechischen Juden. Die ersten 1300 Häftlinge werden im Dezember 1941 für die Instandsetzung der völlig heruntergekommenen Kasernen eingesetzt. Danach treffen aus Prag die Deportationszüge ein, wenig später welche aus Deutschland, Dänemark und Österreich. Da die Festung als Transitlager konzipiert ist, soll hier strukturell ein Ghetto entstehen, ab Juli 1942 mit einem Judenrat für die interne Leitung des Lageralltags und einer tschechischen Wachtruppe für den Außenbezirk. Bald werden die Platzverhältnisse eng: Statt der ursprünglich vorgesehenen 4000 Häftlinge bevölkern 1942 bereits 60’000 Menschen den Ort. Überdies sollen betagte jüdische Tschechen hier im „Reichsaltersheim für Juden“ ihren Lebensabend verbringen. Man teilt die Leute nach Gruppen ein: in Kasernen für Frauen mit Kleinkindern, in jene für Männer, in andere für Kinder und ihre Betreuerinnen. Die Familien dürfen sich täglich kurz in den Gassen treffen.

Theresienstadt: Plan der Festung (© Hans Weingartz)

Die deutschen Behörden haben vorgesehen, hier viele Intellektuelle und Künstler (sog. „Prominente“) zu inhaftieren. Den Ankömmlingen wird viel persönliches Gepäck zugestanden, womit nebst Schmuck und sonstigen Wertsachen auch Musikinstrumente hierher gelangen. Was in den Anfängen noch unterbunden wird – das Singen und Spielen auf den Dachböden – soll später frei ausgeübt werden dürfen. Die Lagerleitung überlässt dem Ältestenrat die sogenannte „Freizeitgestaltung“. Wozu also jetzt noch ihre Kultur verbieten, hier in der Warteschlaufe vor dem Abtransport in die Vernichtungslager? Der Judenrat richtet eine Bibliothek ein, beschafft weitere Instrumente, organisiert verschiedene Räume für Konzert und Theater, ja sogar ein Kaffeehaus. Im Sommer 1943 werden die Innenhöfe zur Freilichtbühne. Theresienstadt soll eine Art „Campus“ werden, wo nebst der Fronarbeit auch ein reger Kulturbetrieb stattfindet. Darüber hinaus organisiert der Judenrat sportliche Aktivitäten, den heimlichen Schulunterricht in den Kasernen oder die Gartenpflege für die Kinder. Was gibt es Berührenderes als die 4500 Kinderzeichnungen, die später auf den Dachböden der Kasernen gefunden wurden. Sie erzählen die Geschichte ihres Ghetto-Alltags. Doch darf man sich nicht täuschen lassen: Nebst all den künstlerischen Aktivitäten dominieren hier der Hunger, die schlechte Hygiene, Krankheit und Tod. Die Musik trägt dazu bei, die eigene Würde zu bewahren, ein Stück Hoffnung zu finden. Es bilden sich Quartette und andere Formationen: Man spielt das klassische Repertoire, man studiert Opern ein und gibt Rezitals. Die SS tolerieren sogar Unterhaltungsmusik und Jazz.

Zu den „prominenten“ Musikern in Theresienstadt zählen Viktor Ullmann, Pavel Haas, Hans Krása und Gideon Klein, dazu Rafael Schächter und der Ueberlebende Karel Ancerl, der spätere Leiter der Tschechischen Philharmonie.

Rafael Schächter (c) gemeinfrei

Rafael Schächter (c) gemeinfrei

RAFAEL SCHÄCHTER, ein in Brünn und Prag ausgebildeter Rumäne, gehört zu den ersten Häftlingen. Der umtriebige Musiker hält unverzüglich Ausschau nach Sängern und für seinen ersten Männerchor arrangiert er mit seinem Freund Gideon Klein tschechische Volkslieder. Ein Jahr später leitet er das erste große Opernprojekt, die „Verkaufte Braut“ von Smetana. Die Chormitglieder sind mit Feuer und Flamme am Werk und finden sich abends nach der Schwerarbeit im Probelokal ein. Die Oper wird zum Großerfolg, doch die Verluste in der Besetzung durch die Selektion für Auschwitz-Transporte müssen stets wieder ersetzt werden.

Zum weiteren Repertoire Schächters gehören Smetanas „Der Kuss“, aber auch Mozarts „Figaro“ und „Die Zauberflöte“, später noch „La Serva Padrona“ von Pergolesi und Bizets „Carmen“ – allesamt konzertante Aufführungen. Als bedeutendstes Projekt aber darf die Einstudierung von Verdis „Requiem“ gelten, das ca. 15mal aufgeführt wird. Für die Proben im Keller steht Schächter bloß ein ramponiertes Harmonium zur Verfügung. Eine Überlebende erinnert sich: „Raffi war gewohnt, uns das, was er mit uns erreichen wollte, vorzusingen. Wir waren gehorsame Sänger, oft rannten wir, ohne uns nach der Arbeit gewaschen zu haben, zur Probe, damit Raffi nicht böse würde. Beim „Requiem“ wollte er alles vollkommen haben.“ Nach den vielen Opern widmet sich Schächter den Kindern und inszeniert mit ihnen Hans Krásas Singspiel „Brundibar“.

Auch Karel Ancerl gehört Ende 1941 zur „Aufbautruppe“ der Festung. Erst nach Monaten darf er sich der Musik widmen. Sein erstes Kammerorchester – mit hervorragenden Solisten – wird nach und nach zu einem großen Klangkörper ausgebaut. Auf den Konzertprogrammen stehen Werke aus dem Barock, der Klassik, der (vornehmlich böhmischen) Romantik bis hin zu Uraufführungen von Werken der hier inhaftierten Mithäftlinge. Außerdem spielt die „Stadtkapelle“ (unter Peter Deutsch) regelmäßig im Pavillon des Hauptplatzes ihre Potpourris aus Opern- und Operetten-Nummern, in der Art eines Salonorchesters.

Schon früh, Anfang 1942, hört man in der „Magdeburger Kaserne“ die Klänge des klassischen Quartett-Repertoires. Egon Ledec, früherer 2. Konzertmeister der Tschechischen Philharmonie, trifft in Theresienstadt auf die Gebrüder Kohn (Bratsche und Cello), die einstigen Mitglieder seines damaligen Prager Quartetts. Man verschafft sich auf Schleichwegen Notenmaterial und das Ledec-Ensemble spielt auf höchstem Niveau, doch nur vor kleinem Publikum. Neben Klassik und Romantik werden auch neue Werke einstudiert, z.T. von Mithäftlingen wie z.B. Sigmund Schul. Keiner der Ledec-Musiker wird 1944 Auschwitz überleben.

In Karel Ancerls Orchester wechseln sich am 1. Pult Egon Ledec und der jüngere Karel Fröhlich ab, der seinerseits zusammen mit seinen Freunden aus Prag das „Theresienstädter Quartett“ leitet. Dessen Repertoire umfasst nebst Klassik auch Werke von Hans Krása oder Gideon Klein, der sich als Pianist bei Klavierquartett- und Trio-Aufführungen beteiligt. Ein glanzvoller Höhepunkt mit diesen Musikern bildet eines der letzten Kammerkonzerte im August 1944, mit Schuberts‘ Streichquintett C-Dur und Brahms‘ Streichsextett G-Dur (mit Karel Ancerl als Bratschisten).

Im Ghetto gibt es nicht nur Chöre, Orchester- und Kammermusik. Auf den wenigen Klavieren geben Meisterpianisten ihre beliebten Rezitals: Juliette Arányiová, Alice Herz-Sommer, Edith Steinerová, Carlo Taube und Bernhard Kaff. Der Slowakin Arányiová hat Viktor Ullmann sein großes Klavierkonzert op. 25 gewidmet, die Pragerin Alice Herz-Sommer – eine der wenigen Holocaust-Überlebenden, die unlängst in England mit 110 Jahren verstorben ist – spielt oft Beethoven, Schubert, Chopin und Debussy, das meiste noch aus dem Gedächtnis von früher, ebenso der mährische Virtuose Berhard Kaff, der sich in der Spätromantik (Liszt und Mussorgsky) tummelt und auch Werke seiner Freunde aufführt.

Auch die Jazz-Szene erlebt in Theresienstadt einen wahren Boom. Aus einer ersten Formation unter dem Prager Jazz-Klarinettisten Bedrich Weiss kristallisiert sich ab 1943 das Dixieland-Orchester der „Ghetto-Swingers“ heraus, das oft im „Kaffeehaus“ oder im Pavillon des Hauptplatzes spielt und zu Propagandazwecken auch mal in Gala-Kluft mit Judenstern eingekleidet und gefilmt wird. Neben klassischem Jazz gibt man Arrangements aus Gershwin und Ausschnitte aus der Krása-Oper „Brundibar“.

Die Kenntnisse über all dies Aktivitäten verdanken wir den zahlreichen erhaltenen Berichten und Tagebüchern von Theresienstadt-Häftlingen, allen voran die reichhaltigen Berichte von Willy Mahler, der im September 1944 nach Auschwitz deportiert wird und später in Dachau stirbt.

Viktor Ullmann und seine Freunde

VIKTOR ULLMANN wird am 8. September 1942 – 44-jährig – nach Theresienstadt deportiert. In Schlesien aufgewachsen wird sich der begabte Musiker in Wien bei Arnold Schönberg weiterbilden. Seine Kapellmeister-Karriere führt ihn nach Zürich und Prag. Ullmanns musikalische Sprache bewegt sich zwischen traditionellen Mustern und der von der Dodekaphonie beeinflussten Atonalität. Im pianistischen Oeuvre finden sich u.a. Martellando-Passagen, die an Strawinsky oder Prokofjew erinnern. Nicht zu vergessen seine Beschäftigung mit der Anthroposophie, welche ihn schon in frühen Jahren nach Dornach bei Basel führt.

Viktor Ullmann  (mit freundlicher Genehmigung der OrelFoundation)                         :

In Theresienstadt übernimmt Ullmann gleich die Führung innerhalb der Musikszene. Dazu gehört die Gründung seines „Instituts für moderne Musik“ und die Programmierung der im Wochen-Rhythmus stattfindenden Konzerte, die ein sehr hohes Niveau erreichen, befinden sich doch unter den Künstlern berühmte Namen aus dem europäischen Konzertbetrieb vor dem Krieg.

Versuchten die deutschen Behörden zu Beginn das musikalische Treiben noch zu unterbinden, so witterten sie bald schon die Chance, das Potenzial für ihre eigenen Zwecke zu nutzen: Die Welt soll hier ein human geführtes Ghetto vorfinden, wo Kunstbetrieb, Studium und auch berufliche Handwerker-Tätigkeit im Zentrum stehen, wo die Menschen über ihre Kreativität eine entspannte Atmosphäre schaffen.

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Brundibár in Theresienstadt, gemeinfrei

Sogar „Brundibár“ wird im Film aufgenommen, ebenso ein Konzert mit Musik von Pavel Haas. Zu dieser Propaganda-Aktion gehört auch die Verschönerung der Gebäude, eine Leih-Bibliothek, ein Café mit Jazz-Musik, aber auch die Reduzierung der Pritschen in den Schlafräumen, damit die Anlage nicht überfüllt wirkt. Im Juni 1944 besucht eine Delegation des Roten Kreuzes das Lager, ahnt jedoch den Schwindel nicht und berichtet danach vom „humanen“ Betrieb in deutschen Konzentrationslagern. Dazu lassen die SS vor den Besuchern das Verdi-Requiem aufführen – der Gipfel des Zynismus, werden doch die Musiker einige Tage später nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.

Aus dem umfangreichen Werk Viktor Ullmanns noch vor der Deportation (op. 1-40) sind einige Werke erhalten geblieben: Die „Variationen über ein Thema von Schönberg“ in der Klavier- oder Orchesterversion, 2 Quartette, 4 Klaviersonaten und das Klavierkonzert op. 25, in dessen Ecksätzen der Pianist sich mit den Bläsern des Orchesters in eruptiver Weise quasi duelliert, während im Lento-Satz eine spätromantische Lyrik-Stimmung aufkommt.

In Theresienstadt entstehen zahlreiche weitere Werke, wie seine Lieder zu Hölderlin-, Rilke- oder zu jiddischen Texten, das 3. Streichquartett, die Klaviersonaten 5 bis 7, schließlich die Oper „Der Kaiser von Atlantis“, dessen Uraufführung erst 1975 stattfinden wird, da Ullmanns Oper-Belegschaft noch während der Proben im Ghetto in die Todeslager deportiert wird. Das allegorische Stück nimmt quasi das absurde Theater von Ionesco voraus (vor allem „Macbett“ oder „Le Roi se meurt“). Die oft spröden Klänge des kleinen Orchesters, die Intervall-Sprünge der Tenor-Partien und das aggressive Trommeln erinnern an Brecht und Kurt Weills Macki-Messer-Sound. Der Kaiser dekretiert von seinem einsamen Palast aus den „Krieg aller gegen alle“. Dabei taucht die clowneske Figur des Todes auf, die den Lauf der Dinge bestimmt und den Kaiser seine Befehle ins Leere hinausschreien lässt. Wie hätten die SS auf diese Hitlerparodie in Theresienstadt reagiert?

Als besonders berührendes Stück gilt Ullmanns letzte Komposition, die 7. Klaviersonate, deren Schlusssatz ein hebräisches Motiv variiert, eine himmlische Klangwelt – voller Hoffnung. Bald nach der Aufführung, am 16. Oktober 1944, besteigen Ullmann und seine Musiker-Freunde die Vieh-Waggons Richtung Birkenau…

Hebräische Melodie aus der 7. Sonate – Handschrift (gemeinfrei)

Was nun die Rolle der Musik in den übrigen Lagern betrifft, so haben zahlreiche Recherchen und Gespräche mit Überlebenden dazu Details überliefert: Seien es die aufgezwungenen Gesänge der Arbeitskolonnen, die Lagerhymne wie z.B. das „Buchenwalder Lagerlied“, die schrille Musik über Lautsprecher (Militärmärsche, Wagner, Beethoven) zur Untermalung der SS-Befehle oder zum Zweck, die Erschießungen akustisch zu überdecken (wie in Majdanek), sei es das Mädchenorchester in Auschwitz, dessen wenige Überlebende bekannt sind: die Musik soll die Menschen demütigen, sie disziplinieren, zum Arbeitstempo anstacheln, andererseits auch die SS-Leute unterhalten.

Nach einem strapaziösen Tag an der Rampe in Auschwitz erholen sich die SS-Offiziere in ihrem Zuhause unweit des Lagers, im Kreis der Familie und mit Freunden. Warum nicht zur Violine greifen und sich ein Mozart-Quartett genehmigen? Wie viele dieser Henker sind doch im Privaten Amateur-Musiker! Unterdessen übt die Lagerkapelle Militärmärsche in einer der eiskalten Baracken für den morgigen Appell oder für das traditionelle „Sonntagskonzert“. Diese „Orchester“ gibt es in fast allen Lagern, wobei die Mitglieder einige wenige Privilegien genießen wie z.B. etwas mehr Brot, weniger harte Arbeit, wärmere Kleider im Winter usw., sind doch die Musiker ein rares Gut! Doch einige Überlebende schildern nach 1945 ihre damalige Abscheu über ihr eigenes Spiel, besonders wenn damit die ahnungslosen Häftlinge musikalisch bis zur Gaskammer oder Verurteilte zum Galgen eskortiert wurden – oder wenn am Geburtstag des Führers ein Ständchen fällig war.

Zum Thema der Shoah-Musik gibt es seit den 1990er-Jahren viele Beiträge in Büchern, Zeitschriften und Ausstellungen, auch Aufführungen und CD-Einspielungen, zu Viktor Ullmann und Theresienstadt.

In Frankreich sorgt das „Forum voix étouffées-Cemut“ unter der Ägide von Amaury Closel für die Verbreitung der Shoah-Musik. („Les Voix étouffées du Troisième Reich“, Arles, 2005)

Quellennachweise:

Ingo Schultz, Viktor Ullmann. Leben und Werk. Kassel 2008
Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Frankfurt a.M. 1998 (2. Aufl.)

26. Oktober 2021 || ein Beitrag von Josef Zemp, Studium der Romanistik und Musikologie in der Westschweiz und in Frankreich (Doktorat). Parallel dazu Berufsausbildung am Konservatorium (Cello und Klavier) – Cello-Diplom.

Geboren in einer Familie von Amateur-Musikern. Volksmusikforschung in Madagaskar, danach Unterricht am Gymnasium (französische Sprache und Literatur, Musik). Leitung von Weiterbildungskursen für Gymnasiallehrer. Publikationen in Feuilletons und Zeitschriften zur französischen Literatur. Vortragsreihen an Volkshochschulen zu Literatur und Musikgeschichte.